Es klopft
Leider müsse er sich verabschieden, da er einen Vortrag bei einer Tinnitus-Selbsthilfevereinigung halten müsse.
Er könne ja gleich mitkommen, scherzte Manuel, vielleicht sei er dort auch bald Mitglied.
Als er etwas später auf Mannharts Praxis-Parkplatz in seinem BMW saß, den Motor angelassen hatte und die Handbremse lösen wollte, hielt er einen Moment inne.
Es war ihm, als ziehe sich etwas um ihn zusammen. War das möglich, dass er ab jetzt mit einem Tinnitus leben musste, einem Tinnitus, der stark genug war, um ihn nachts zu wecken? Er wusste, was das bedeutete. Er sah die verhärmten Gesichter seiner langjährigen Geplagten vor sich, welche die Hoffnung auf Linderung aufgegeben hatten, und er sah seinen Musiker und hörte seinen letzten Satz in der letzten Konsultation: »Ich kann nicht mehr.«
Und war das möglich, dass er diesen Klopfgeist nur zum Verstummen bringen konnte, wenn er mit dem klar kam, was er jahrelang für sich behalten hatte und was sich nun auf einmal wie ein Lebensproblem gebärdete? Wäre das nicht eine Kraftloserklärung seines bisherigen, so ordentlich und harmonisch verlaufenen Lebens? Dieses Lebens, in dem ständig eine Lüge mitlief, eine Lüge, die ihm jederzeit zu Diensten war, wie auch vorhin wieder? Würde ihm jemand vorwerfen, egal in welchem Zusammenhang, er sei ein Lügner, würde er das als Beleidigung zurückweisen. Dabei war es so. Er war ein Lügner. Ein Feigling und ein Lügner. Manchmal. Wenn es nicht anders ging.
Was sollte er nur tun?
Sich jemandem anvertrauen?
Wem?
Wo war dieser Brief mit dem Foto?
Wer war Anna?
Wieso mußte sie ausgerechnet baseldeutsch sprechen?
Oder genügte das Cortison?
Als es dreimal an die Fensterscheibe klopfte, schloss er die Augen und biss auf die Zähne.
Dann rief eine grauhaarige Frau, die sich zum Beifahrerfenster hinuntergebeugt hatte, er solle entweder wegfahren oder den Motor abstellen, er verstinke hier den ganzen Hof mit seinem Auspuff.
Manuel löste die Handbremse und fuhr weg.
16
M anuel und Julia saßen im »Theater an der Sihl« und applaudierten. Sie waren umgeben von lauter Menschen, die ebenfalls applaudierten. Soeben hatte sich König Peter mit den Worten »Kommen Sie, meine Herren, wir müssen denken, ungestört denken!« von der Bühne ins Publikum begeben, war zwischen den Reihen durchgegangen und hatte immer wieder gemurmelt »Ich bin ich«, war manchmal vor einem Zuschauer stehen geblieben, hatte ihn mit dem Blick fixiert und dann gesagt: »Du bist du«, während sich der Staatsrat durch einen anderen Teil des Publikums gezwängt und, auf König Peter deutend, gemurmelt hatte: »Er ist er.« In ihrer Reihe hatte er Julia ins Auge gefasst und zum König hinübergerufen: »Sie ist sie!«
Und als Leonces Kumpan, der Taugenichts Valerio, in einem »Playboy«-Magazin blätternd, sein Schlusswort gesprochen hatte, in dem er Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, klassische Leiber und eine kommode Religion gebeten hatte, stellte sich der König zuhinterst im Publikum auf einen Stuhl und brüllte das erste Ergebnis seines ungestörten Denkens in den Saal: »Wir sind wir!« Darauf wurde der Massenjubel eines Fußballstadions eingeblendet, der in eine gewaltige Explosion überging, ein blendender Blitz leuchtete auf, dann gab es einen Blackout, und der Ton riss ab.
Es blieb fast eine Minute lang dunkel, niemand wagte sich zu rühren, erst als ganz langsam das Saallicht hochgefahren
wurde, setzte Applaus ein, zögernd zuerst, dann immer kräftiger, schwappte über die Schauspieltruppe, die als Ganzes die Bühne betrat, schwoll in Wellen an, als die Akteure aus der Reihe einzeln vortraten, bei Valerio vor allem, einem übergewichtigen Sancho Pansa mit einem wunderbaren komischen Instinkt, aber auch bei Lena und bei Leonce. Er steigerte sich nochmals, als die Schauspieler der Regisseurin winkten, und als Mirjam kam, um sich zu verbeugen, erklangen »Bravo!«-Rufe, was Julia, die ebenso heftig klatschte wie ihre Umgebung, die Tränen in die Augen trieb, und auch wie ihre Tochter jetzt den Bühnenbildner und den Tontechniker und die Beleuchterin auf die Bühne holte, wärmte ihr das Herz, das Bühnenbild mit dem riesigen Märchenbuch hatte sie sofort angesprochen, es brauchte keinen Vergleich zu scheuen mit dem, was man im Schauspielhaus oder im Opernhaus sah. Als nun das ganze Team auf der Bühne stand, begann das Publikum zusätzlich mit den Füssen auf den Boden zu trampeln, etwas, bei dem Julia und Manuel nicht
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