Es klopft
Fahrt nach St. Moritz saßen sie in den Erstklassabteilen der Rhätischen Bahn, mit einem Laptop auf dem Fenstertischchen, und schauten mit ihren Kindern zusammen, Kopfhörer in den Ohren, brutale Gangsterfilme an, während draussen die Tannenwälder des Albulatals an ihnen vorbeizogen.
Die Veränderungen. Der Schafberg, an dessen Fuß Pontresina lag, galt mit dem langsamen Auftauen des Permafrosts als so unsicher, dass knapp oberhalb ihres Ferienhauses in den letzten Jahren eine gewaltige Auffangmauer gebaut worden war, ein Erdwall, der stark genug sein sollte, um einen eventuellen Bergsturz aufzufangen. Julia erinnerte sich gut an ihren Schrecken, als sie in der ersten Informationsbroschüre gesehen hatte, dass mitten in der rot schraffierten, mit »A« bezeichneten Gefahrenzone auch ihr Haus lag.
Das Lärchenholz, das jetzt in ihrem Kamin knisterte, stammte von Bäumen, die wegen der Bauarbeiten gefällt wurden. Darunter war auch der älteste Baum des Dorfes gewesen, eine 150jährige, majestätische Lärche, die sie einmal mit Manuel zusammen umfasst hatte, der Stamm war so dick, dass sich ihre Fingerspitzen noch knapp berührten.
Wahrscheinlich hatte sich Thomas für das richtige Studium entschieden. Er war jetzt die zweite Woche im Maggiatal mit der Erfassung der Kastanienbäume beschäftigt, und es gefalle ihm sehr, hatte er ihr am Telefon gesagt. Sein Italienisch
könnte besser sein, aber das liege nicht an ihren Lektionen, sondern an ihm. Julia war froh, dass er nicht nach Mexiko gegangen war. Da sich Anna entschlossen hatte, das Kind auszutragen, war das der einzig richtige Entscheid. So war es ihm möglich, während des Praktikums an den Wochenenden nach Zürich zu fahren, und zur Zeit hielt er Ausschau nach einer Ferienwohnung in Cevio oder Cavergno, damit Anna auch eine Zeit lang in den Tessin kommen konnte. Anna ihrerseits suchte in Zürich für sich und Thomas eine günstige Wohnung, die spätestens frei würde, wenn das Kind kam.
Julia freute sich auf ihr Enkelkind. Sie hatte Anna angeboten, dass sie das Kind gern einen Tag in der Woche hüten würde. Ein bisschen schmerzte es sie, dass Anna entschlossen war, es in eine Säuglingskrippe zu geben, um ihr Studium weiterführen zu können. Sowohl Thomas als auch Anna hatten gesagt, sobald die Studienpläne für das Wintersemester bekannt seien, würden sie sich einen genauen Wochenplan zurechtlegen, an dem sie beide je einen Tag übernehmen könnten, und wenn Julia auch einen übernähme, blieben nur noch zwei Tage Krippe. Trotzdem würde es ein unruhiges erstes Lebensjahr für das Kleine geben, und das missfiel Julia. Kinder brauchten am Anfang, davon war sie überzeugt, möglichst viel Ruhe und Regelmäßigkeit. Andererseits bewunderte sie Anna für ihren Mut, das Kind zu behalten, obwohl so vieles dagegen sprach.
Mirjam. Sie hatte ihren Abschluss an der Schauspielschule gemacht und durfte schon Mitte August mit den Proben zum Fosse-Stück im »Schiffbau« beginnen. Ein Glücksfall. Der ursprünglich vorgesehene Regisseur war wieder ausgestiegen, und dann hatte der Dramaturg ihren Büchner gesehen.
Eine Chance. Bei einem Erfolg würden sich bestimmt noch andere Türen auftun. Im Moment war sie mit Sandra, einer Freundin aus der Kantonsschulzeit, auf einer Reise zum Nordkap in Norwegen, die ihr Manuel und sie zum Diplom geschenkt hatten. Mit einer Freundin. Nie mit einem Freund. Manchmal fragte sich Julia, ob ihre Tochter lieber Frauen hatte als Männer. Und? Was wäre dann?
Julia schob mit dem Feuereisen ein Holzstück auf die Glut, das etwas zur Seite gefallen war.
Dann? Dann wäre es halt so. Das wäre nicht einmal ihr selbst vollkommen fremd. Einmal, bei einer Einladung unter Freunden, hatte eine Frau, ebenfalls verheiratet, sie beim Abschied heftiger umarmt, als es dem Anlass zukam, hatte ihr die Zunge in die Ohrmuschel geschoben und ihr zugeflüstert, wenn sie einmal mit ihrem Mann nicht zufrieden sei, solle sie bei ihr vorbeikommen. Das Flirren, das sie bei diesem Ohrenkuss empfunden hatte, war ihr noch lange nachgegangen, aber besucht hatte sie die Frau nie.
Das Telefon läutete. Julia stand auf und ging in den Flur, doch bis sie am Apparat war, war er verstummt. Sie schaute auf die Uhr. Halb elf. Es war ein älteres Gerät, das nicht anzeigte, wer angerufen hatte, doch es konnte fast nur jemand aus der Familie sein. Sie stellte die Erlenbacher Nummer ein und ließ es lange läuten, acht oder zehn Mal. Manuel antwortete nicht. Ob er es
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