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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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großer freier Fleck im Rasen, dort konnte man schmutzige Kellerfenster im verfallenen Backsteinfundament des Hauses sehen. In einem dieser Fenster hatte Eddie Kaspbrak vor sechs Wochen zum ersten Mal das Gesicht des Aussätzigen gesehen.

6
     
    Manchmal, wenn Eddie niemanden hatte, mit dem er samstags spielen konnte, fuhr er zum Güterbahnhof. Es gab keinen speziellen Grund dafür, außer vielleicht den, dass er gern dort war.
    Er fuhr mit dem Rad die Witcham Road entlang und bog dann an der Kreuzung auf die Route 2 nach Nordwesten ab. Die Christliche Schule an der Neibolt Street befand sich etwa anderthalb Kilometer von der Kreuzung entfernt. Es war ein etwas schäbiges, aber sauberes Holzhaus mit einem großen Kreuz auf dem Dach, und über der Eingangstür stand in vergoldeten, sechzig Zentimeter hohen Lettern: LASSET DIE KINDER ZU MIR KOMMEN. Manchmal hörte Eddie samstags Gospelmusik aus dem Inneren, aber wer auch immer das Klavier spielte, klang eher nach Jerry Lee Lewis als nach einem gewöhnlichen Kirchenmusiker. Die Lieder hörten sich für Eddies Ohren auch nicht sehr religiös an. Die Leute, die sie sangen, schienen zu ausgelassen zu sein, als dass es heilige Lieder sein könnten, fand Eddie. Aber trotzdem mochte er den Klang, so wie er es auch mochte, wenn Jerry Lee »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On« schmetterte. Manchmal stellte er dann sein Rad auf der anderen Straßenseite ab, setzte sich unter einen Baum und tat so, als läse er dort, während er in Wirklichkeit dieser Musik lauschte.
    An anderen Samstagen war die Christliche Schule geschlossen und er fuhr direkt zum Güterbahnhof, wo die Neibolt Street in einen Parkplatz mündete, durch dessen rissigen Asphalt Unkraut wuchs. Dort lehnte er sein Fahrrad gegen den Holzzaun und beobachtete die vorbeifahrenden Züge, von denen an Samstagen viele fuhren. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass hier früher ein richtiger Bahnhof – Neibolt Station – gewesen war, wo Fahrgäste abfahren und ankommen konnten, aber damit war so um das Jahr 1950 herum, als der Koreakrieg begann, Schluss gewesen. »In nördlicher Richtung konnte man nach Brownsville fahren«, hatte sie erzählt, »und von dort quer durch ganz Kanada, wenn man wollte, bis zum Pazifik. In südlicher Richtung konnte man nach Portland und Boston fahren, und ab der Bostoner South Station stand einem dann das ganze Land offen. Aber die Passagierzüge dürften jetzt passé sein. Das Auto ist ihr Tod. Vielleicht wirst du nie mit einem Zug fahren.«
    Aber immer noch fuhren Züge durch Derry, lange Güterzüge, auf dem Weg nach Süden, beladen mit Faserholz, Kartoffeln und Papier, auf dem Weg nach Norden beladen mit allen möglichen Waren für Bangor, Millinocket, Machias, Houlton und Presque Isle. Besonders liebte Eddie die langen Autozüge mit den unzähligen funkelnden Fords und Chevrolets. Eines Tages werde ich ein solches Auto haben, schwor er sich. Ein funkelnagelneues. Vielleicht sogar einen Cadillac!
    Insgesamt waren es sechs Gleise, die hier wie die Fäden eines Spinnennetzes in der Mitte zusammenliefen: die Bangor- und die Great-Northern-Linie von Norden her, die Great Southern und die Western Maine von Westen her, die Boston und die Maine von Süden her und die Southern Seacoast von Osten her.
    Eines Tages vor zwei Jahren, als Eddie sich am Ende des Bahnhofs am Gleis der Southern Seacoast aufhielt, warf ein betrunkener Eisenbahner, der in der geöffneten Tür eines langsam fahrenden Güterwaggons stand, eine Lattenkiste heraus. Eddie duckte sich und wich nach hinten zurück, obwohl die Kiste drei Meter vor ihm im Schotter landete. In der Kiste war etwas Lebendiges, das sich bewegte und Klick-Laute von sich gab. »Letzte Fahrt, Junge!«, brüllte der betrunkene Eisenbahner, während er eine flache braune Flasche aus seiner Jackentasche zog, sie öffnete, daraus trank und sie dann auf den Schotter warf, wo sie zerbrach. Dann deutete er auf die Kiste und rief: »Bring sie heim zu deiner Mutter! Mit besten Grüßen von der beschissenen Southern-Seacoast-zur-Hölle-Linie.« Er lehnte sich bei diesen letzten Worten weit hinaus, weil der Zug nun schneller fuhr, und einen Moment lang befürchtete Eddie, dass er herausfallen würde.
    Als der Zug außer Sichtweite war, beugte Eddie sich über die Kiste. Er hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen. Etwas Schlüpfriges, Kriechendes war in ihrem Inneren. Hätte der Eisenbahner gerufen, sie wäre für ihn gewesen, hätte Eddie sie dort liegen gelassen. Aber er

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