Es: Roman
hatte gesagt, er solle sie zu seiner Mama bringen, und genauso wie Ben tat auch Eddie exakt das, was man ihm sagte, sobald man das Zauberwort »Mama« erwähnte.
Eddie stibitzte ein Stück Schnur aus einem der leeren Lagerhäuser und band die Kiste auf seinem Gepäckträger fest. Seine Mutter spähte noch vorsichtiger als Eddie hinein und stieß einen Schrei aus – nicht vor Angst, sondern vor Freude. Vier Hummer lagen in der Kiste, große Zweipfünder mit zusammengebundenen Scheren. Sie kochte sie zum Abendessen und war ziemlich wütend, dass Eddie nichts davon essen wollte.
»Was glaubst du, was die Rockefellers in ihrem Haus in Bar Harbor heute Abend essen?«, fragte sie empört. »Was glaubst du, was die Reichen im Twenty-One und im Sardi’s in New York City gerade essen? Sandwiches mit Erdnussbutter und Gelee? Nein, Hummer! Sie essen Hummer, so wie wir! Nun komm schon, Eddie, probier doch wenigstens mal!«
Aber Eddie wollte nicht – zumindest behauptete seine Mutter das. Vielleicht stimmte das auch, aber Eddie hatte eher das Gefühl, dass er die Hummer nicht essen konnte. Er musste ständig daran denken, wie sie in der Kiste herumgekrochen waren und mit ihren zusammengebundenen Scheren geklickt hatten. Sie hörte nicht auf ihm zu erzählen, wie gut sie schmeckten und was für eine Gaumenfreude er verpasste, bis er nach Atem rang und sein Asthma-Spray benutzen musste. Erst dann ließ sie ihn in Ruhe.
Eddie zog sich in sein Zimmer zurück und las. Seine Mutter rief ihre Freundin Eleanor Dunton an. Eleanor kam herüber, und die beiden Frauen kicherten über Klatschzeitschriften und stopften sich mit kaltem Hummersalat voll. Als Eddie am nächsten Morgen aufstand, um zur Schule zu gehen, schnarchte seine Mutter noch und furzte häufig, was sich anhörte wie tiefe Trompetentöne (sie ließ ein paar Gute ab, hätte Richie gesagt). Die Schüssel mit dem Hummersalat war bis auf winzige Reste Mayonnaise leer.
Das war der letzte Zug der Southern Seacoast gewesen, den Eddie je gesehen hatte, und als er später Mr. Braddock, den Bahnhofsvorsteher, sah, fragte er ihn zögernd, was passiert sei. »Sie hat Pleite gemacht, weiter nichts«, sagte Mr. Braddock. »Liest du keine Zeitungen, Junge? So was passiert derzeit im ganzen verdammten Land. Und jetzt mach, dass du hier wegkommst. Das hier ist kein Ort für Kinder.«
Von nun an spazierte Eddie manchmal entlang der Gleise der ehemaligen Southern Seacoast – Gleis 4 -, die in Städte führten, die ein Schaffner mit monotoner Stimme in seinem Kopf auszurufen schien, Namen mit magischem Klang: Camden, Rockland, Bar Harbor, Wiscasset, Bath, Portland, Ogunquit, Berwick; er lief ostwärts an den Gleisen der Linie 4 entlang, bis er müde wurde, und es machte ihn traurig zu sehen, dass zwischen den Schwellen Unkraut wucherte. Einmal hatte er aufgeschaut und Möwen gesehen (vermutlich waren es nur fette, alte, bequeme Möwen gewesen, denen das Meer scheißegal war, aber das war ihm damals nicht in den Sinn gekommen), die über seinem Kopf umherschwirrten und schrien, und der Klang ihrer Stimmen hatte ihm Tränen in die Augen getrieben.
Früher hatte es einmal am Bahnhofseingang ein Tor gegeben, aber es war bei einem heftigen Wintersturm vor Jahren umgestürzt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es zu reparieren. Eddie konnte kommen und gehen, wie er wollte, obwohl Mr. Braddock ihn fortjagte, sobald er ihn – oder irgendein anderes Kind – sah und obwohl manchmal Lastwagenfahrer hinter ihm herliefen (aber nie sehr weit), weil sie dachten, er würde dort herumlungern, um etwas zu stehlen – was Kinder hin und wieder nun einmal tun.
Aber im Großen und Ganzen war es dort ruhig. Es gab auch ein Pförtnerhäuschen am Eingang zum Bahnhofsgelände, aber es war leer, und die Scheiben waren mit Steinen eingeworfen worden. Seit 1950 oder so gab es hier keine Aufsicht mehr. Mr. Braddock scheuchte die Kinder tagsüber fort, und nachts machte ein Wachmann in seinem alten Studebaker, an dessen Schwenkfenster ein Suchscheinwerfer angebracht war, vier- oder fünfmal die Runde.
Manchmal hielten sich hier allerdings auch Vagabunden und Landstreicher auf. Wenn Eddie vor etwas Angst hatte, so vor diesen Männern mit unrasierten Wangen, rissiger Haut, Blasen an den Händen und Herpes an den Lippen; sie fuhren ein Stück weit mit den Güterzügen, blieben dann eine Zeit lang in Derry und fuhren wieder weiter. Manchmal fehlten ihnen Finger. Meistens waren sie betrunken und fragten nach
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