Es: Roman
Herz schrie immer noch so laut wie am Vortag, dass sie Bill folgen müsse. Ihr Schlaf war eine Aneinanderreihung irrer Albträume gewesen. Sie rief Freddie an, weil sie glaubte, ihm wenigstens das schuldig zu sein. Sie kam nicht weit. Sie versuchte gerade, ihm stockend zu erklären, wie stark sie das Gefühl hatte, dass Bill sie brauchte – als sie am anderen Ende der Leitung ein leises Klicken hörte. Freddie hatte einfach aufgelegt, ohne nach dem ersten »Hallo« auch nur ein Wort zu sagen.
Aber in gewisser Weise, dachte Audra, drückte dieses leise Klicken alles aus, was gesagt werden musste.
7
Das Flugzeug landete um 19.09 Uhr ostamerikanischer Zeit in Bangor. Audra war der einzige Passagier, der hier ausstieg, und die anderen warfen ihr neugierige Blicke zu und fragten sich vermutlich, welchen Grund jemand haben konnte, in dieser gottverlassenen kleinen Stadt auszusteigen. Audra dachte daran, ihnen Folgendes zu erzählen: Wissen Sie, ich suche meinen Mann. Er ist in eine Kleinstadt hier in der Nähe zurückgekommen, weil einer seiner Kinderfreunde angerufen und ihn an ein Versprechen erinnert hat, an das er überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Der Anruf brachte ihm auch die Tatsache in Erinnerung, dass er seit über zwanzig Jahren nicht mehr an seinen toten Bruder gedacht hatte. O ja, und dieser Anruf hat auch sein Stottern zurückgebracht … und einige seltsame weiße Narben auf seinen Handflächen.
Und dann, dachte sie, würde der Mann vom Zoll die Jungs mit den weißen Mänteln herbeipfeifen.
Sie holte ihr einziges Gepäckstück ab – es sah auf dem Kofferkarussell sehr verloren aus – und begab sich zu den Mietwagenagenturen, wie Tom Rogan es etwa eine Stunde später ebenfalls tun würde. Aber sie hatte mehr Glück als er: National Car Rental hatte einen Datsun für sie.
Das Mädchen füllte ein Formular aus, und Audra unterzeichnete es.
»Ich dachte mir schon, dass Sie es sind«, sagte das Mädchen – und dann schüchtern: »Könnte ich ein Autogramm haben?«
Audra gab es ihr – schrieb es auf die Rückseite eines Formulars – und dachte dabei: Freu dich daran, solange du es noch kannst, Mädchen. Wenn Freddie Firestone recht hat, wird es in fünf Jahren keinen Scheißdreck mehr wert sein.
Amüsiert stellte sie fest, dass es, nachdem sie wieder amerikanischen Boden betreten hatte, keine fünfzehn Minuten gedauert hatte, bis sie auch wieder wie eine Amerikanerin dachte.
Sie besorgte sich eine Straßenkarte, und das Mädchen, das vor Ehrfurcht kaum ein Wort hervorbrachte, zeigte ihr den günstigsten Weg nach Derry.
Zehn Minuten später war Audra unterwegs. Sie musste sich an jeder Kreuzung in Erinnerung rufen, dass sie jetzt wieder in Amerika war und nicht links fahren durfte, weil man sie ansonsten vom Asphalt würde abkratzen können.
Und während sie so dahinfuhr, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie mehr Angst hatte als je zuvor in ihrem Leben.
8
Durch eine jener seltsamen Schicksalsfügungen oder Zufälle, die es manchmal gibt (in Derry allerdings häufiger als anderswo), hatte Tom sich ein Zimmer im Koala Inn auf der Outer Jackson Street genommen, und Audra hatte sich im Holiday Inn einquartiert – die beiden Motels standen nebeneinander, und ihre Parkplätze waren nur durch einen Betongehweg voneinander getrennt. Und wie der Zufall so spielt, standen Audras gemieteter Datsun und Toms gekaufter Ford LTD einander direkt gegenüber, nur durch jenen Gehweg getrennt. Jetzt schliefen beide jedenfalls, Audra ruhig auf der Seite liegend, Tom auf dem Rücken, so laut schnarchend, dass seine geschwollenen Lippen zitterten.
9
Henry versteckte sich den Tag über – er versteckte sich im Dickicht am Rand der Route 9. Manchmal schlief er. Manchmal sah er Streifenwagen wie Jagdhunde vorbeischleichen. Während die Verlierer zu Mittag aßen, lauschte Henry den Stimmen vom Mond.
Als es dunkel wurde, ging er zum Straßenrand und streckte den Daumen aus.
Nach einer Weile hielt ein Dummkopf an und nahm ihn mit.
Derry:
Das dritte Zwischenspiel
»A bird came down the Walk -
He did not know I saw -
He bit an Angleworm in halves
And ate the fellow, raw«
EMILY DICKINSON
»A BIRD CAME DOWN THE WALK«
17. März 1985
Der Brand im Black Spot ereignete sich im Spätherbst 1930. Soweit ich feststellen konnte, beendete das Feuer im Black Spot – dem mein Vater mit knapper Not entkommen ist – den Zyklus von Morden und Vermisstenmeldungen der Jahre 1929/30 ebenso wie die
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