Es: Roman
lächerlichen Anklage, ein Verbrechen begangen zu haben, freigesprochen worden. »Mein Sohn hat Asthma«, erklärte sie, »ziemlich schweres Asthma, aber er wird großartig damit fertig.«
»Gut«, sagte die Krankenschwester nur.
Seine Mutter hielt sein Asthma-Spray so, dass er inhalieren konnte. Gleich darauf tastete Dr. Handor Eddies gebrochenen Arm ab. Er ging dabei so behutsam wie irgend möglich vor, aber es tat trotzdem wahnsinnig weh. Eddie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien, weil er befürchtete, dass seine Mutter sonst auch schreien würde. Große Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn.
»Sie tun ihm weh!«, rief Mrs. Kaspbrak. »Ich weiß das! Und es ist nicht notwendig! Hören Sie auf! Sie dürfen ihm nicht wehtun! Er ist sehr zart, er kann solche Schmerzen nicht ertragen!«
Eddie sah, wie die wütende Schwester und der erschöpfte, besorgte Arzt einen Blick tauschten. Er verstand ihre wortlose Unterhaltung: Schmeißen Sie diese Frau doch raus, Doktor. Und die hilflosen Augen des Arztes: Ich kann nicht. Ich traue mich nicht.
Der Schmerz verschaffte ihm große Klarsicht (obwohl er diese Erfahrung ehrlich gesagt nicht oft machen wollte: Der Preis war einfach zu hoch), und während der wortlosen Unterhaltung zwischen Arzt und Krankenschwester glaubte er alles, was Mr. Keene ihm gesagt hatte. Sein Asthma-Spray war nichts anderes als Wasser, dem etwas Kampfer zugefügt war. Das Asthma hatte seine Ursache weder in seiner Kehle noch in seiner Brust, noch in seiner Lunge, sondern in seinem Kopf. Irgendwie würde er mit dieser Wahrheit fertig werden müssen.
Er betrachtete auch seine Mutter mit dieser Klarsicht; er sah jede einzelne Blume an ihrem Kleid, sah die Schweißringe unter ihren Achseln und ihre schiefgetretenen Schuhe. Er sah, wie klein ihre Augen zwischen den Fleischmassen waren, und plötzlich hatte er einen schrecklichen Gedanken: Diese Augen waren fast raubvogelartig, wie die Augen des Aussätzigen, der aus dem Keller des Hauses Nr. 29 in der Neibolt Street herausgekrochen war. Hier komme ich, Eddie … es wird dir nichts nutzen wegzurennen, Eddie …
Dr. Handor legte seine Hände behutsam um Eddies gebrochenen Arm und drückte zu. Der Schmerz durchzuckte ihn wie eine Flamme.
Er verlor wieder das Bewusstsein.
5
Sie flößten ihm irgendeine Flüssigkeit ein, und Dr. Handor schiente den gebrochenen Arm. Verschwommen hörte er den Arzt seiner Mutter erklären, es sei ein glatter Bruch, nichts weiter Schlimmes. »Es ist ein Bruch, wie Kinder ihn sich oft zuziehen, wenn sie von einem Baum fallen«, sagte der Arzt, und seine Mutter erwiderte wütend: »Eddie klettert nie auf Bäume! Und jetzt will ich die Wahrheit wissen! Wie schlecht geht es ihm?«
Dann gab die Krankenschwester Eddie eine Tablette. Er spürte wieder ihre Brüste an seiner Schulter und war dankbar für diese tröstliche Berührung. Trotz seiner Benommenheit sah er, dass die Schwester verärgert war, und er glaubte zu sagen: Sie ist nicht der Clown, bitte glauben Sie das, sie frisst mich nur auf, weil sie mich liebt, aber vielleicht hatte er das auch nur gedacht, denn das ärgerliche Gesicht der Schwester veränderte sich nicht.
Er bekam undeutlich mit, dass er in einem Rollstuhl einen Korridor entlanggeschoben wurde, und irgendwo hinter sich hörte er die immer schwächer werdende Stimme seiner Mutter: »Was soll denn das heißen – Besuchszeiten? Erzählen Sie mir doch nicht so einen Blödsinn! Besuchszeiten! Er ist mein Sohn! «
Er war froh, dass ihre Stimme immer schwächer wurde. Die Schmerzen waren verschwunden, und mit ihnen auch seine Klarsicht. Er wollte nicht nachdenken. Er wollte nur vor sich hindösen. Sein rechter Arm kam ihm sehr schwer vor. Er überlegte, ob sie ihn wohl schon eingegipst hatten, aber er konnte es nicht genau sehen. Er nahm undeutlich wahr, dass aus Krankenzimmern Radios zu hören waren, dass auf den breiten Korridoren Patienten umherliefen, die in ihren Krankenhauspyjamas wie Gespenster aussahen, und dass es heiß war … irrsinnig heiß. Als er in sein Zimmer gefahren wurde, konnte er die Sonne als grelle Kugel aus Orange und Blutrot untergehen sehen, und er dachte zusammenhanglos: Wie ein großer dicker Clown-Pompon.
»Komm, Eddie, du kannst laufen«, sagte eine Stimme, und er stellte fest, dass er es wirklich konnte. Gleich darauf lag er zwischen knisternden kühlen Bettlaken. Die Stimme erklärte ihm, dass er in der Nacht Schmerzen haben würde, aber nur dann klingeln und
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