Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
enthüllten verfaulte Zähne.
    »Stimmen«, sagte er. »Hörst du auch Stimmen, Nigger?«
    »Was für Stimmen, Henry?« Er nahm beide Hände hinter den Rücken, wie ein Schuljunge beim Aufsagen eines Gedichts, und ließ den Brieföffner von der linken Hand in die rechte wandern. In der Stille der Bücherei war nur das sekündliche Ticken der im Jahr 1923 von Horst Mueller gestifteten Standuhr zu hören.
    »Vom Mond«, sagte Henry und schob eine Hand in die Tasche. »Sie kamen vom Mond. Viele Stimmen.« Er überlegte kurz, runzelte dabei leicht die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Viele Stimmen, aber eigentlich nur eine. Seine Stimme.«
    »Hast du Es gesehen, Henry?«
    »Jau«, erwiderte Henry. »Frankenstein. Hat Victor den Kopf abgerissen. Hätteste hören sollen. Gab’n Geräusch, wie wenn man’nen großen Reißverschluss öffnet. Dann hat Es sich auf Belch gestürzt. Belch hat mit Ihm gekämpft.«
    »Ja?«
    »Jau. Dadurch konnte ich entkommen.«
    »Du hast ihn im Stich gelassen.«
    »Sag so was nicht!« Henrys fette Wangen liefen vor Zorn rot an. Er machte zwei Schritte nach vorn, und als er jetzt aus dem Glaskorridor in die Erwachsenenbücherei heraustrat, kam er Mike seltsamerweise jünger vor. Er konnte in Henrys Gesicht die gleiche Bösartigkeit wie damals erkennen, aber er sah auch etwas anderes: das Kind, das vom verrückten Butch Bowers großgezogen worden war, das auf einer ursprünglich ordentlichen Farm aufgewachsen war, die Butch allmählich immer mehr heruntergewirtschaftet hatte. »Sag so was nicht! Es hätte auch mich umgebracht!«
    »Uns hat Es nicht umgebracht.«
    Henrys Augen funkelten hinterhältig. »Noch nicht. Aber Es wird euch auch umbringen. Es sei denn, dass ich Ihm keinen von euch übrig lasse.« Er zog die Hand aus seiner Tasche. Ein schmaler, länglicher Metallgegenstand mit Intarsien aus Elfenbeinimitat kam zum Vorschein. Henry drückte auf einen kleinen Chromknopf, und eine fünfzehn Zentimeter lange Stahlklinge schoss hervor. Er schlug mit der Klinge in die Handfläche – und kam rasch näher.
    »Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte er. »Ich wusste, wo ich suchen musste.« Er zwinkerte mit einem blutunterlaufenen Auge. »Der Mann im Mond hat’s mir erzählt.« Henry entblößte wieder seine Zähne. »Bin per Anhalter gefahren. Mit’nem alten Mann. Hab ihm’nen Schlag versetzt. Ich glaub, er war tot. Bin mit dem Auto in Newport in’nen Graben gefahren. Kurz hinter der Stadtgrenze von Derry hab ich dann diese Stimme gehört. Ich hab bei’nem Gully nachgeschaut. Und da lagen die Kleider. Und das Messer. Mein altes Messer.«
    »Du vergisst aber etwas, Henry.«
    Grinsend schüttelte Henry den Kopf.
    »Wir sind damals mit dem Leben davongekommen, und du ebenfalls. Wenn Es uns will, dann will Es dich auch, Henry.«
    »Nein.«
    »Ich glaube doch. Ihr Schwachköpfe habt Ihm vielleicht die Arbeit abgenommen, aber Es hat eigentlich keinen bevorzugt, oder? Es hat deine beiden Freunde getötet, und während Belch Es bekämpft hat, bist du entkommen. Aber jetzt bist du wieder da. Ich glaube, Es betrachtet dich auch noch als unerledigte Angelegenheit, Henry. Wirklich.«
    »Nein!«
    »Vielleicht wirst du wieder Frankenstein sehen. Oder den Werwolf. Einen Vampir. Oder vielleicht den Clown. Vielleicht wirst du sehen, wie Es wirklich aussieht, Henry. Wir haben es gesehen. Soll ich es dir sagen? Soll ich …«
    »Sei still!«, schrie Henry und stürzte sich auf Mike.
    Mike sprang beiseite und stellte ihm ein Bein. Henry stolperte darüber und fiel der Länge nach hin. Er schlug dröhnend auf dem Boden auf und schlitterte über die abgetretenen Fliesen. Sein Kopf prallte gegen ein Bein des Tisches, an dem die Verlierer vorhin gesessen und Geschichten erzählt hatten. Einen Moment lang war er halb betäubt; das Messer hing schlaff in seiner Hand.
    Mike ging auf ihn zu, auf das Messer zu. In diesem Augenblick hätte er Henry umbringen können; er hätte den Brieföffner mit der Aufschrift JESUS ERRETTET in Henrys Nacken stoßen und danach die Polizei anrufen können. Das hätte natürlich etwas offizielles Geschwafel gegeben, aber nicht allzu viel – nicht in Derry, wo solche Gewalttaten keine Seltenheit waren.
    Was ihn davon abhielt, war zum Teil die Erkenntnis, die ihn blitzartig durchzuckte, ohne richtig in sein Bewusstsein zu dringen: dass er Sein Werk ausführen würde, wenn er Henry tötete; ebenso wie umgekehrt Henry Sein Werk ausführte, wenn er Mike tötete; was ihn aber mehr

Weitere Kostenlose Bücher