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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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offen gehalten, und er konnte ein Stück weit hineinsehen. Er glaubte, Füße zu erkennen, und plötzlich kam ihm der schreckliche Gedanke, dass Stan vielleicht doch noch gekommen war, dass Stan gleich aus der Dunkelheit treten würde, seine Vogelenzyklopädie in einer Hand, mit weißem Gesicht und violetten Lippen, mit aufgeschnittenen Handgelenken und Unterarmen. Ich bin doch noch gekommen, wenn auch ziemlich spät, würde Stan sagen. Ich habe so lange gebraucht, weil ich mich erst aus einer Grube herausarbeiten musste, aber nun bin ich da …
    Der nächste Schritt – und jetzt konnte Mike deutlich Schuhe erkennen – Schuhe und ausgefranste Hosenbeine über nackten Knöcheln. Und gut einen Meter achtzig über diesen Knöcheln konnte er in der Dunkelheit funkelnde Augen sehen.
    Er tastete auf der Platte der halbkreisförmigen Ausleihtheke herum, ohne den Blick von diesen regungslosen, funkelnden Augen zu wenden. Seine Finger berührten die Kante eines kleinen Holzkarteikastens – die Karten überfälliger Bücher. Dann eine Pappschachtel – Gummis und Büroklammern. Gleich darauf schlossen sich seine Finger um einen metallenen Gegenstand. Es war ein Brieföffner mit den eingravierten Wörtern JESUS ERRETTET auf dem Griff. Ein billiges Ding, das er zusammen mit einem Spendenaufruf von der hiesigen Baptistenkirche zugeschickt bekommen hatte. Mike hatte seit fünfzehn Jahren keine Gottesdienste mehr besucht, aber es war die Gemeindekirche seiner Mutter gewesen, und er hatte fünf Dollar überwiesen, obwohl er sich das kaum leisten konnte. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Brieföffner wegzuwerfen, aber dann war er doch auf seiner unordentlichen Pulthälfte (Caroles Seite war immer tadellos aufgeräumt) liegen geblieben.
    Er umklammerte den Brieföffner krampfhaft und starrte in den dunklen Glaskorridor.
    Noch ein Schritt … und noch einer. Jetzt waren die ausgefransten Baumwollhosen schon bis zu den Knien sichtbar, und er konnte auch die Umrisse der dazugehörigen Gestalt erkennen: breit, schwerfällig, mit runden Schultern und zerzausten Haaren. Eine fast affenartige Gestalt.
    »Wer ist da?«
    Die Gestalt stand einfach da und betrachtete ihn.
    Zwar fürchtete Mike sich immer noch, aber er hatte die lähmende, übernatürliche Angst überwunden, die mit der Vorstellung verbunden gewesen war, es könne Stan Uris sein, der aus dem Grab zurückgekehrt war, der durch die Narben auf seinen Handflächen auf geheimnisvolle Weise ins Leben zurückgerufen worden war wie ein Zombie in einem Horrorfilm der Hammer-Filmproduktion. Aber wer immer der Eindringling auch sein mochte – Stan war es jedenfalls nicht. Stan war nicht so groß gewesen.
    Die schattenhafte Gestalt machte einen weiteren Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht der ersten Kugellampe im Korridor auf die Schlaufen am Bund der Jeans, durch die kein Gürtel gezogen war.
    Plötzlich wusste Mike, wer es war. Er wusste es, noch bevor die Gestalt den Mund aufmachte.
    »Hallo, Nigger«, sagte die Gestalt. »Hast du wieder mal Steine geworfen, Nigger? Willst du wissen, wer deinen Scheißköter vergiftet hat?«
    Die Gestalt machte noch einen Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht auf Henry Bowers’ Gesicht. Es war dick, aufgedunsen und kränklich blass; die teigigen Hängebacken waren mit Bartstoppeln bedeckt, die etwa zur Hälfte nicht mehr schwarz, sondern schon grau waren. Über den buschigen Brauen zogen sich drei tiefe Querfalten über die Stirn. Weitere Falten bildeten große Klammern um die Winkel des volllippigen Mundes. Die kleinen Augen, die in dem fetten Gesicht fast verschwanden, waren blutunterlaufen und hatten einen leeren Ausdruck. Es war das Gesicht eines vorzeitig gealterten Mannes, der eigentlich erst neununddreißig Jahre alt war, doch aussah wie Mitte siebzig. Aber gleichzeitig war es das Gesicht eines zwölfjährigen Jungen. Henry Bowers’ Kleidung war noch grün, scheinbar hatte er sich den ganzen Tag über in Büschen versteckt.
    »Willste nicht Hallo sagen, Nigger?«, fragte Henry.
    »Hallo, Henry.« Mike fiel plötzlich ein, dass er seit zwei Tagen kein Radio mehr gehört hatte, ja, dass er nicht einmal die Derry News aufgeschlagen hatte, deren Lektüre bei ihm normalerweise zum festen Ritual gehörte. Es war einfach zu viel los gewesen. Zu beschäftigt.
    Zu dumm.
    Henry blieb am Ende des Glaskorridors stehen und starrte Mike mit seinen Schweinsäuglein an. Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem unbeschreiblichen Grinsen und

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