Es sterben immer drei
Frischluft daran zu erinnern, dass es jetzt aber wirklich an der Zeit sei, die Verkehrsschilder ernst zu nehmen und im Schritt-Tempo den Mautschalter anzusteuern.
Das Kaffeetrinken am Brenner war ein Irma-Ritual aus einer Zeit, als sie noch mit Mann und Kind in den großen Ferien ans Meer fuhr. Hatte die Familie, genervt von der Warterei in zwei langen Schlangen, eine an der Grenze nach Österreich, eine nach Italien, endlich das gelobte Land erreicht, wurde gefeiert. Der Urlaub hatte endgültig begonnen. Vergessen die quengelnde Stella im Fond, die schon kurz vor Kufstein mit ihrem Mantra begann: »Wann sind wir endlich da?« Vergessen das kleine Leben zuhause. Hier am Brenner begann die Freiheit. Der Kaffee wurde italienisch bestellt, due espressi per favore, auch wenn der Barmann hinter dem Tresen unweigerlich in dem gutturalen Deutsch der Südtiroler antwortete. Machte nichts. Es war trotzdem Italien. Stella schlürfte giftig gelbe arranciata mit einem Strohhalm aus der Flasche, und ihre Eltern tranken mit geschlossenen Augen stark duftenden Kaffee aus winzigen Tassen. Sie durfte den runden Aniskeks essen, der auf der Untertasse lag. Nur einmal tauchte sie ihn neugierig in den Kaffee und verzog, weil er so bitter schmeckte, das Gesicht so schief, dass ihr Vater lachen musste. Fünfundzwanzig Jahre später hatte sie sich mit Espresso immer noch nicht angefreundet. Während ihre Mutter die Tasse mit einem entschlossenen Schluck leerte, nippte Stella an ihrem Cappuccino. Auch der war ihr immer noch zu bitter, und sie ärgerte sich, dass sie keine Latte macchiato bestellt hatte. Sie standen in einem muffelnden Chaos von Schokoladen,Salami, Trüffelöl und anderen Lebensmitteln, mit denen Touristen die Erinnerungen bis nach Hause retten wollen. Das Geschäft in der Bar war deutlich zurückgegangen, seit die Grenzkontrollen abgeschafft worden waren. Viele Touristen hielten nur noch, wenn die Kinder aufs Klo mussten. Aber bald, so verkündete eine Bautafel, würde am Brenner eine ultramoderne Raststätte neu entstehen. Dann konnte der Start ins gelobte Land wieder standesgemäß zelebriert werden.
»Hier ist es aber auch nicht mehr wie früher«, stellte Irma fest und knallte ihre Tasse auf den Unterteller, dass es klirrte. »Kannst du dich erinnern, wie Papi das mochte.« Stella konnte sich erinnern, und es fiel ihr ein, dass sie auch mit Valerie auf dem Weg nach Italien auf einem Stopp bestanden hatte. Aus alter Gewohnheit und trotz des Protests von Valerie, die lieber gleich direkt nach Venedig gebrettert wäre. »Was willst du in dieser Ödnis, wenn du in ein paar Stunden am Markusplatz sitzen kannst.« Aber Stella war ein sentimentaler Mensch. Zumindest manchmal. Sie brauchte Fixpunkte im Leben, an denen sie sich festhalten konnte, damit wenigstens ab und zu die Illusion von Stabilität sie aufatmen ließ. Es war die einzige Reise mit Valerie gewesen. Sie wollten zur Biennale nach Venedig, mit Presseausweis und Akkreditierung teilnehmen am ganz großen, am glamourösen Leben. Zwei Jungredakteurinnen, die nicht wussten, dass Venedig in der Biennalezeit ausgebucht war. Der Mann im Fremdenverkehrsbüro trieb schließlich ein Zimmer für drei Nächte in einer Pension auf, in der die Lobby als Familiengruft diente. Die alten Verwandten des Besitzers, gebrechliche eingeschrumpfte Vogelscheuchen, an denen die Kleider schlotterten, besetzten die abgewetzten Sofas und Sessel und schliefen. Eine Kakophonie der unterschiedlichsten Schnarchgeräusche empfing die Gäste und wurde nur übertönt vom Ächzen des altersschwachen Lifts. Valerie und Stella lachten über die Felliniszenerie und holten jedes Mal, bevor sie durch die Lobby rannten, tief Luft, um die Ausdünstungen von Verwesung, ungewaschenenKörpern und einem fetten furzenden Hund nicht einatmen zu müssen. Nach zwei Tagen war Valerie verschwunden. Am dritten Tag musste Stella das Zimmer räumen. Sie deponierte Valeries Reisetasche beim Portier und fuhr zum Lido, wo sie im Festivalgetümmel jeden, den sie kannte, nach ihrer Freundin fragte. Niemand hatte Valerie gesehen. Aber auf dem Rückweg im Vaporetto zum Bahnhof tauchte sie plötzlich einfach auf. Strahlend. Bester Laune. Ohne jedes Schuldgefühl, weil sie Stella, ohne sich abzumelden, allein gelassen hatte. Sie trug ein enges Kleid mit einem großen Ausschnitt, das Stella nicht kannte und das verdächtig teuer aussah, und ein Paar lebensgefährliche Stilettos, die ebenfalls nagelneu waren. Sie hakte sich bei
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