Es sterben immer drei
verdächtig nach weiblichem Accessoire aussah. Sie fragte sich, ob Valerie ihn vielleicht auch getragen hatte, schlüpfte wortlos hinein und fühlte sich sofort geschützter. Sie legte den Aktenordner neben den Computer, ohne noch einmal einen Blick hineinzuwerfen.
»Ich will das alles gar nicht wissen«, sagte sie, sich sehr wohl bewusst, dass sie beide Arten von Fotos meinte. Die mit der toten und die mit der sehr lebendigen Valerie. Wovon er natürlich keine Ahnung hatte.
Er nickte verständnisvoll und öffnete den Ordner trotzdem. Aber so, dass sie nicht hineinsehen konnte. An seinem Gesicht waren keine Gefühle abzulesen. Er schaute darauf wie ein Gynäkologe in sein Mikroskop über einem Abstrich. Mit einer routinierten Neugierde, als hätte er das alles schon tausendmal gesehen und nichts könnte ihn mehr überraschen. Er schwieg lange und betrachtete und blätterte. Sie wartete. Kämpfte er mit einer Lüge oder suchte er nach einer einfachen Erklärung für eine komplizierte Wahrheit?
»Weißt du, was das ist?« Er zeigte ihr einen langen, eng geschriebenen Text, der nach kompliziertem Italienisch aussah und außerdem gespickt war mit mathematischen Berechnungen von Kurven. »Die ballistische Rekonstruktion des Schusses auf Valerie.« Er zeigte ihr einzelne Seiten mit gelb markierten Zeilen. »Valerie wurde mit einem einzigen Schuss getötet. Ungewöhnlich daran ist das große Kaliber. Sehr wahrscheinlich das englische Kaliber .375. Genau können wir das erst feststellen, wenn wir die Kugel oder das Gewehr finden.«
»Ein Jagdgewehr?« Erleichtert hielt Stella sich an dem Wort fest wie an einer vorbeischwimmenden Planke. Als hoffte sie, damit ein ungefährlicheres Gebiet zu erreichen als ein Gespräch über peinliche Fotos.
»Valerie war sofort tot. Ein meisterhafter Schuss in den Kopf.« Luca, konzentriert auf seinen Aktenordner, merkte nichts von dem Sturm, der sie erwischt hatte. Noch ein tourbillon de la vie . Sie atmete tief durch und griff nach der nächsten Planke. »Englisches Kaliber?«
Luca blätterte zu dem Computerausdruck eines alten Schwarz-Weiß-Fotos. Eine koloniale Jagdgesellschaft, irgendwo in Indien. Korpulente weiße Männer in Kakianzügen und Tropenhelmen, ein paar ausgemergelte Inder im Dhoti und in ihrer Mitte ein Maharadscha mit prächtigem Bart und einer dicken Brosche auf seinem Turban, posierten stramm aufgerichtet wie Soldaten vor vier toten Tigern, die wie Bettvorleger vor ihnen in einer Reihe lagen. Alle Männer außer den Indern trugen Gewehre. Luca tippte darauf. »Engländer messen den Durchmesser der Gewehrläufe in Inch und Zoll und nicht, wie die Europäer oder auch die Amerikaner, in Millimetern. Deshalb sind die Größen unterschiedlich. Ballistik-Experten können aus dem Durchmesser der Einschusslöcher lesen, woher die Munition und vielleicht auch die Waffe kommt.«
»Also wurde Valerie mit einem englischen Gewehr erschossen?«
»Das wissen wir nicht.« Luca hatte auch das Foto einer Patrone abgeheftet. »Aber vielleicht mit englischer Munition. Da wir kein Projektil gefunden haben, vermutet der Ballistiker, mit einer Kugel wie dieser hier. H&H .375 bezeichnet das Kaliber und H&H steht für Holland&Holland, einen berühmten englischen Büchsenmacher. Sehr teuer und sehr begehrt. Das Kaliber .375 hat die Firma schon 1912 entwickelt. Für die Großwildjagd in Afrika. Damals gingen viele englische Kolonialherren zum Zeitvertreib auf die Jagd. Dafür brauchten sie eine Munition, die stark genug ist, um große Tiere schnell zu töten, aber nicht zu stark, damit der Rückstoß beim Schießen dem Jäger nicht die Schulter ruinierte.«
»Und Kaliber dreihundertsowieso wird immer noch verwendet?« Der Hauptgrund für Stellas Mathematikschwierigkeiten war schon immer, dass sie sich keine Zahlen merken konnte.
»Es ist immer noch beliebt. Löwen, Antilopen, Springböcke, Büffel, Gnus, alles wird damit erledigt, auch Elche und Bären in Kanada oder Skandinavien. Ein sehr guter Schütze kann damit sogar einen Elefanten töten. Inzwischen gibt es zwar noch größere Kaliber, die tödliche Verwundungen bewirken, selbst wenn der Schütze nicht sicher trifft, aber diese Geschosse sind unter den klassischen Großwildjägern verpönt. Denen, die sich für Gentlemen halten.«
»In Westeuropa wird das Kaliber nicht verwendet?«
»Doch, schon. Für ausgewachsene Wildschweine und Hirsche. Aber bei der relativ geringen Größe dieser Tiere wirkt das Kaliber auf kurze
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