Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
leise.
»O ja.« Gretel legte eine Pause ein, um ihre Worte wirkenzu lassen, ehe sie zum tödlichen Schlag ausholte. »Es war beinahe, als hätte ihm jemand das Herz gebrochen.«
Johanna schluchzte unterdrückt.
Gretel sah sich zu Madame Renoir um. Sie wollte es nicht übertreiben. Sollte das Mädchen wieder in Tränen ausbrechen, würde seine Arbeitgeberin es ins Hinterzimmer schicken, außer Sichtweite der Kundschaft. Zum Glück war die Geschäftsinhaberin voll und ganz mit einer dürren Frau beschäftigt, die sich die Augenbrauen tätowieren ließ.
»Tut mir sehr leid«, sagte Gretel. »Wie es scheint, habe ich dich erschreckt.«
»Verzeih, Fräulein«, schniefte das Mädchen.
»Mag sein, dass ich da zu viel hineinlese, aber könnte es sein, dass es zwischen dir und dem jungen Hund eine gewisse … Gewogenheit gibt?«
Johanna nickte, und ihre Finger nahmen müde die Arbeit an Gretels Haaren wieder auf. »Ach, Fräulein«, wisperte sie. »Wenn du wüsstest, welche Qualen wir durchleiden mussten.«
»Armes Kind. Erzähl mir davon.«
»Roland ist der süßeste und liebste Mann auf der Welt.«
»Gewiss.«
»Es war wahre Liebe.«
»Natürlich.«
»Aber dann …«
»Aber dann?«
Johanna schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht.
Gretel erinnerte sich an etwas, das Roland gesagt hatte, und räusperte sich.
»Die Welt ist, wie sie ist«, sagte sie, »und wir alle müssen nehmen, was das Schicksal uns zuteilt.«
Johanna hörte auf zu schniefen und starrte Gretel im Spiegel an.
»Hast du mit ihm darüber gesprochen? Hat Roland dich ins Vertrauen gezogen?«
»Ich habe den jungen Mann ermutigt, sich seiner Bürde zu entledigen.«
»Oh, Fräulein Gretel, du bist so eine gute Frau!«
»Man bemüht sich.«
»Er hat so gelitten. Für mich. Und für seinen Vater.« Die Miene des Mädchens veränderte sich. Gretel musste an den abrupten Stimmungswechsel denken, den das Mädchen durchlaufen hatte, als es mit Roland sprach. »Dieser Mann …« Es hörte sich beinahe wie ein Fauchen an.
»Herr Hund? Ein guter Mann, dem Vernehmen nach.«
»Gut? Ha! Ist es gut, dem eigenen Sohn das Herz zu brechen? Ist es gut, die eigene Familie zu ruinieren?« Kaum waren die Worte heraus, flog ihre Hand an die Lippen. »Bitte, Fräulein, beachte meine Worte nicht. Ich habe zu viel gesagt. Es war nur das dumme Geplapper eines Mädchens mit einem liebenden Herzen. Verzeih.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, versicherte Gretel und gab Johanna Gelegenheit, mit ihrer Arbeit fortzufahren. Doch die Reaktion des Mädchens auf die Erwähnung von Herrn Hund schien Hänsels Theorie zu bestätigen, derzufolge der ältere Hund sich mit der Zockerei in Schwierigkeiten gebracht hatte. In diesem Moment fiel Gretel etwas ganz anderes auf. Als sie das Spiegelbild des Mädchens betrachtete, erkannte sie plötzlich, weshalb das Gesicht ihr so vertraut vorkam. Natürlich, diese Johanna! Warum nur hatte es so lange gedauert, bis sie das Mädchen erkannt hatte? Ja, die Erinnerung kehrte zurück. Als Jakob von den Bohnenstangen vor ein paar Jahren Bayernbereist hatte, hatte seine kleine Schwester ihn begleitet. Schon damals war Gretel aufgefallen, wie hübsch das Mädchen war. Aber auch genervt – so Gretels Eindruck damals –, ständig im Schatten ihres Bruders und seines schnell gewachsenen Ruhmes zu stehen. Johanna wurde nicht einmal erwähnt in all den Geschichten über die Pflanzung der magischen Bohnen, den Aufstieg zum Schloss in den Wolken, die Täuschung des Riesen und die Flucht mit der Gans, die goldene Eier legte.
Aber was war passiert, nachdem der Rummel sich gelegt hatte? Gretel durchforstete ihren schmerzenden Kopf. Dann fiel ihr ein, dass Jakob fortgezogen war, in die Ferne gelockt von einem wärmeren Klima. Sie war ziemlich sicher, dass er seine Mutter mitgenommen hatte, aber was war mit seiner Schwester? Wenn Johanna tatsächlich schon längere Zeit Rolands Geliebte gewesen war, musste sie in der Nähe gelebt haben. Aber Gretel hatte sie in den Jahren, die seither vergangen waren, kein einziges Mal gesehen. Seufzend erkannte sie, dass immer noch zu viele Puzzleteile fehlten, um ein klares Bild zu bekommen.
Geschrubbt, poliert und parfümiert wieder zu Hause angekommen, wurde Gretel von dem erfreulichen Anblick einer prachtvollen neuen Eingangstür empfangen. Sie trat ein und rief nach Hänsel, doch der war noch nicht aus dem Wirtshaus zurück. Der Abend war schwül.
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