Es war einmal ein Mord: Ein Hänsel und Gretel-Krimi (German Edition)
erkennbare Struktur oder Form. Pfeifen waren de rigueur , für Männer und Frauen. Die Damen bildeten allerdings nicht einmal ein Viertel der Kundschaft, doch ihre zahlenmäßige Unterlegenheit machten sie spielend durch die Lautstärke ihres fröhlichen Kreischens und dem erstaunlichen Schnitt ihrer Dekolletés wett.
Gretel senkte den Kopf und bahnte sich an den übelriechenden Leibern vorbei einen Weg zum Tresen. Hänsel blieb ihr dicht auf den Fersen. Gemeinsam pflügten sie eine beträchtliche Schneise in die Zechergemeinde, fingen sich aber wenig mehr als ein paar neugierige Blicke ein. Plötzlich kam Gretel in den Sinn, dass ihr zerzaustes, reisegeschädigtes Erscheinungsbild ihr zur Abwechslung zum Vorteil gereichte. Wäre sie hier in ihrem gewohnt schicken Putz aufgetreten, das Haar frisiert und parfümiert, die Schuhe sauber und schön, hätte sie gewiss unerwünschte Aufmerksamkeit erregt.
Sie beugte sich über die klebrige Holzplanke, die als Tresen fungierte, und winkte das Frauenzimmer zu sich, das dahinter arbeitete.
»Wärest du so nett, mich zum Inhaber dieses Etablissements zu bringen?«, fragte sie.
Ihre Frage, so vernünftig und harmlos sie ihr auch erschien, löste einen Chor aus Gegacker und Gewieher aus.
»›Inhaber‹ hat sie gesagt!«, kreischte die Barfrau.
»›Etablissement!‹«, johlte ein Trinker in der Nähe.
Und so ging es weiter.
Gretel wartete so geduldig, wie ihre Erschöpfung es gestattete, dass die Heiterkeit sich legte, ehe sie es mit einem süßen Lächeln erneut versuchte.
»Ich wünsche nur, die Kosten für ein Mahl, die Unterbringung für eine Nacht und einen Stall für mein Pferd zu erfahren.«
Auch diese Frage erwies sich zunächst als urkomisch. Gretel wusste nicht weiter. Soweit es sie betraf, stellte sie absolut vernünftige Fragen auf eine absolut vernünftige Weise, und doch schlug ihr nur Hohn und Spott entgegen. Sie wandte sich an ihren Bruder.
»Hänsel, die Jahre, die du in derartiger Gesellschaft verbracht hast, mögen auf dich abgefärbt haben. Bitte versuch, einen vernünftigen Ton aus dieser Harpyie herauszuholen, ehe ich ihr eine Flasche über den Kopf ziehe.«
»Ganz ruhig, liebe Schwester. Kein Grund, gewalttätig zu werden. Gestattest du?« Er drängte sich an ihr vorbei, bis seine breite Gestalt in vorderster Front der Informationsbeschaffungskette am Tresen angelangt war. »Süße Maus!«, rief er. »Ich korrigiere: Süße junge Maus!«
Die Barfrau hielt inne. Unverkennbar hatte er ihre Aufmerksamkeit gefesselt. Sie schlenderte herbei. Als sie näher kam, offenbarte sie jedes gnadenlose Detail ihres Erscheinungsbildes. Sie mochte unter dreißig sein, hatte aber offenbar so etwas wie die Pocken überlebt, die auf ihrer Haut eine Ansammlung scheußlicher Narben hinterlassen hatten. Darüber hätte man gewiss hinwegsehen können, wäre da nicht auch noch der purpurrote Teint ihrer Nase, wahrscheinlich eine Folge enger Verbundenheit mit größeren Vorräten an Alkohol. Das auffallendste und erschreckendste Merkmal der Frau jedoch war ihre Unfähigkeit, ihr wanderndes linkes Auge unter Kontrolle zu bekommen. Für eine Sekunde ruhte es auf der Person ihrer Wahl – in diesem Fall Hänsel –, dann trieb es davon, glitt erst nach außen, dann nach innen, wo es schließlich ihre leicht knollenförmige Nase fixierte, während ihr rechtes Auge die Position hielt.
Hänsel zeigte, aus welchem Holz er geschnitzt war, indem er ohne zu zögern die Gunst des Augenblicks nutzte.
»Hab Erbarmen mit meinem armen Herzen«, beschwor er sie und griff sich theatralisch an die Brust. »Es ist so verstört ob des Anblicks solcher Anmut, dass nur das beste Bier imstande ist, sein leidenschaftliches Pochen zu besänftigen.«
Nun war es an Gretel zu lachen. Ein lautes, ungläubiges Prusten war ihr entfleucht, ehe sie es aufhalten konnte.
»Sei still!«, zischte Hänsel ihr zu. »Ich weiß, was ich tue.«
Offensichtlich. Die Barfrau trat näher und lehnte sich auf außerordentlich entgegenkommende Art und Weise über den Tresen.
»Na«, sagte sie, »das ist ja mal ein feiner Herr. Was kann ich Gutes für dich tun?«
Hänsel und die junge Frau kicherten, als teilten sie irgendein höchst erotisches Geheimnis. Gretel wurde derweil ganz blümerant zumute.
»Oh«, seufzte Hänsel sehnsuchtsvoll. »Was kann ein Mann schon wollen? Ein gutes Mahl. Einen sicheren Ort, um seinen müden Kopf zu betten.« Er legte eine Pause ein, die er dazu nutzte, einen eingehenden
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