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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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drehte sich Sonia um und fragte von der Treppe aus: »Wann hat sie Geburtstag?«
    »Wieso?« fragte ich erstaunt.
    »Hier bringt man die Menschen nicht um, die schon gestorben sind«, antwortete sie.
    »Hier bei uns«, ergänzte Genia die Worte ihrer Freundin, »lassen wir weder Gott noch den Deutschen den Sieg, bei uns bleibt jeder, den sie nehmen, am Leben.«
    »Meine Mutter«, antwortete ich den beiden, »hat zweimal Geburtstag, am 8. Mai, als die Deutschen kaputtgingen, und am 21. August, als ich auf die Welt kam.«
    »Ich verspreche dir«, sagte Sonia und legte die rechte Hand auf ihr Herz, »daß an ihren zwei Geburtstagen bei uns die ganze Nacht ein Seelenlicht brennen wird.«

    Aus einem kleinen Haus am Rand des Viertels, gegenüber der Grundschule, drang Tag und Nacht lautes Geschrei auf polnisch.
    Ich kannte die Frauen, die dort wohnten, nicht, sie kamen nur selten auf die Straße, und ich verstand nicht, was das Geschrei bedeutete.
    Wenn ich fragte, was sie da schrien, antwortete meine Mutter: »Unsinn.«
    Die Schreie gingen üblicherweise unter im Lärm der spielenden Kinder, wurden übertönt von den lauten Rufen des Eisverkäufers und des Messer- und Scherenschleifers.
    Einige der rätselhaften Worte, die immer wieder geschrien wurden, hatten sich in mein Gedächtnis eingemeißelt: Krematorium, Baracke, Lager, Aktion, Judenrat.
    Ich war sechs Jahre alt und kam mit meiner Mutter vom ersten Elternabend in der Schule zurück. Auf der dunklen Straße war, wie jeden Abend, das Gebell von Hunden zu hören, das Maunzen von Katzen und das Geschrei auf polnisch.
    Wir näherten uns dem Haus, aus dem die Schreie drangen. Die Tür stand weit offen. Wir standen auf der Schwelle und spähten hinein.
    In einem kleinen Zimmer standen sich zwei Frauen gegenüber. Das Gesicht der größeren Frau war rot vor Zorn und ihre Stimme heiser vom Schreien. Sie trug ein geblümtes Kleid in grellen Farben. Die andere Frau war dünn und knochig. Ihr magerer Körper war von einem blauen Kittel bedeckt, und unter dem Netz auf ihrem Kopf waren Lockenwickler zu erkennen. Von der Wand hinter ihnen blätterte die Farbe ab, wie eine Kulisse im Theater war sie über und über mit Stickbildern bedeckt. Ein weißer, durchsichtiger Vorhang flatterte im Wind und gab den Blick auf ein Fenster frei, durch das man nur Finsternis sah.
    Sie standen sich an einem kleinen Holztisch gegenüber und brüllten sich lauthals an. Als sie uns bemerkten, verstummten sie und starrten uns mit aufgerissenen Augen an.
    Meine Mutter unterbrach die plötzliche Stille mit einem Monolog: »Was spielt das für eine Rolle, ob das Krematorium im Westen oder im Osten des Lagers stand – ganz Polen war ein einziges großes Krematorium! Und warum soll man sichstreiten, ob die Aktion im Herbst oder im Frühjahr stattfand – als hätte es nur eine einzige Aktion gegeben! Und für wen ist es wichtig, ob in der Reihe vor der Gaskammer Pepa vor Fela oder Fela vor Pepa stand? Schließlich sind beide gestorben!« Und sie sagte: »Wer von dort entkommen ist, muß weiterleben, auch wenn er tot ist. Es wird Zeit, daß ihr trotz allem hier in der Gegenwart lebt und daran zu glauben beginnt, daß es eine Zukunft gibt.«
    Plötzlich wurde sie blaß und verstummte. Als sie sich wieder gefaßt hatte, wünschte sie den beiden alles Gute und eine geruhsame Nacht und entfernte sich mit raschen Schritten.
    »Die beiden armen Frauen haben keine Zukunft«, hörte ich wieder die Stimme meiner Mutter.
    »Warum haben sie keine Zukunft?« fragte ich damals.
    »Weil sie keine Tochter wie dich haben«, antwortete sie.
    Im Licht der Straßenlaternen und des Mondes sah ich, wie ihre Augen glänzten, sie schritt ganz aufrecht dahin, als würde sie schweben.
    »Komm, laß uns nach Hause gehen«, sagte sie.
    Zusammen gingen wir die Straße entlang, Mutter und Tochter, Hand in Hand.
    Das nennt man Glück, dachte ich damals, als ich sechs Jahre alt war, und Freude erfüllte mich.

    Ich schloß die Wohnung ab und stieg die Stufen hinunter. Eine Weile blieb ich vor dem Haus meiner Kindheit stehen, ich konnte mich kaum davon trennen.
    Ich beugte mich hinunter zur Erde, die feucht war vom ersten Regen, und pflückte die Blumen, die im Garten wuchsen, zu einem Strauß.
    Ich schaute auf. Von der anderen Straßenseite kam mein Mann auf mich zu, unsere beiden Kinder auf den Armen. Nun schloß ich auch das rostige Eisentor ab und ging zu ihnen.
    Zusammen fuhren wir zum Friedhof.
    Dort legte ich die Blumen auf

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