Es war einmal eine Familie
zerbrochen.«
Chemda warf ihm einen verlegenen Blick zu, und Herr Pschigurski verstummte.
Als sie sich gesetzt hatten, bemerkte Chemda die Alben, die ich vom Regal auf den Boden geräumt hatte.
»Darf ich?« fragte sie und fing sofort an, in ihnen zu blättern.
Herr Pschigurski hingegen wandte sich den Bücherregalen zu, die an allen Wänden der Wohnung angebracht waren.
Ich bot ihnen, wie es bei einer Schiwa üblich ist, einen kleinen Imbiß an.
Chemda wollte nur kaltes Wasser, wegen ihrer Diät, und Herr Pschigurski bat um Tee, wegen seiner Gesundheit.
Als ich aus der Küche zurückkam, war Chemda in die alten Alben vertieft.
In einem entdeckte sie aufgeregt alte Bekannte aus der Kindheit: Fruma, die Kindergärtnerin, Pola, die Lehrerin, Carmela, die Schulkrankenschwester, und alle Klassenkameraden. Auf einem Foto standen Chemda und ich nebeneinander. Ich verkleidet als polnische Krakowiak-Tänzerin, und sie, wieMischka, der Fotograf, in einem schwarzen Anzug und mit einem schwarzen Zylinder auf dem Kopf, der ihr Gesicht fast verdeckte. In den Armen hielt sie einen Schuhkarton, den ihr Vater mit schwarzer Farbe angemalt hatte. Vorn auf den Karton hatte er einen runden Spiegel geklebt, das sollte die Linse sein, und in geraden lateinischen Buchstaben stand darunter: Leica.
»Das war damals die allerbeste Kamera«, erklärte Chemda und strich zärtlich über das Foto.
»Wie er das alles allein hinbekommen hat«, sagte sie und betrachtete ihren Vater mit großer Zärtlichkeit.
Der alte Mann war vollkommen in ein Buch versunken, und Chemda blätterte weiter in den Alben.
Als sie eine Seite umblätterte, fiel mein Blick auf ein altes Foto. »Mai 1964 – Jahresausflug, Ort: die Jerusalemer Berge«, hatte ich damals mit Bleistift darunter geschrieben.
Auf dem Foto waren, wie in jedem Jahr, alle Kinder der Klasse zu sehen, zusammengedrängt und lächelnd, und mitten unter ihnen Pola, die Lehrerin, Nimrod, unser Gruppenleiter, und Helena, meine Mutter, die uns bei allen Ausflügen begleitete.
Vor jenem Ausflug hatte ich mir geschworen, daß meine Mutter nicht mehr kontrollieren würde, ob ich genug getrunken und alle belegten Brote aufgegessen hätte. Diesmal, so hatte ich mir gelobt, würde sie Nimrod nicht zuflüstern, wie sie es immer tat, wenn sie ihre geschwollenen Füße quälten: »Bitte, Herr Gruppenleiter, gehen Sie etwas langsamer, meine Tochter hat Atembeschwerden.«
Diesmal hatte ich ihr gar nicht erst gesagt, daß die Klasse einen Ausflug plante.
»Warum ist deine Mutter nicht gekommen?« fragte Pola erstaunt, als ich allein in den Bus stieg.
»Meine Mutter ist krank«, sagte ich nur.
Als wir in den Jerusalemer Bergen ankamen, sammelten sich die Kinder um Nimrod. Die Sicht war gut, die Luft klar und rein.
»Im Osten sieht man die judäischen Berge«, sagte er. »Im Westen kann man an schönen Tagen das Meer sehen.« Doch in diesem Moment zog ein Taxi unsere Aufmerksamkeit auf sich, das langsam den Berg heraufgefahren kam.
Das Taxi blieb stehen, und meine Mutter stieg aus.
Ich rieb mir erschrocken die Augen.
Sie kletterte zum Aussichtspunkt herauf, der Saum ihres geblümten Kleides flatterte im Wind, so daß sie gezwungen war, es festzuhalten, damit man nicht alles sah. In der einen Hand trug sie eine blaue Stofftasche mit Essen, in der anderen eine rote Plastikwasserflasche. Das bunte, durchsichtige Seidentuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, wurde vom Wind weggerissen, und sie versuchte vergeblich, es wieder einzufangen.
»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte sie zur Lehrerin, während sie mit ihrem Kleid kämpfte, das vom Wind hochgeweht wurde. Die Kinder brachen in Gelächter aus.
Pola versuchte, die Situation zu retten, und hielt eine begeisterte Rede.
»Seht euch das an, was für eine Mutter!« sagte sie zu den kichernden Kindern. »Obwohl sie krank ist, ist sie gekommen.«
Und ich, wie in einem Strudel, hörte Pola über Mutterliebe sprechen. Und je mehr sie meine Mutter pries, um so weniger wurde gelacht.
»Warum hat sie kommen müssen?« flüsterte ich verzweifelt. Pola hielt einen Moment inne und warf mir einen wütenden Blick zu. »Wenn du groß bist, wirst du es verstehen«, sagte sie.
»Wie habe ich dich darum beneidet, daß deine Mutter jeden Ausflug mitgemacht hat«, sagte Chemda, als sie das Bild betrachtete, und blätterte weiter.
Ich saß neben ihr und versank in den Bildern. So wechselte ich ein zweites Mal vom Kindergarten in die
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