Es war einmal eine Familie
das Stück Erde, das jetzt für immer und ewig ihr Zuhause sein würde.
»Ihre Mutter war schon bewußtlos, als sie hier eingeliefert wurde«, sagte der Arzt müde und fügte, während er eine knarrende Schublade öffnete und eine Krankenakte herausnahm, hinzu: »Ihr Zustand ist sehr ernst.« Dann fragte er nach ihrem Namen.
»Helena«, antwortete ich leise, und er notierte ihren Namen mit schwarzer Tinte.
»Wie alt ist die Patientin?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
»Welche Krankheiten hatte sie in der Vergangenheit?« fragte der Arzt.
»Für mich«, antwortete ich, »war sie immer gesund.«
»An was hat sie gelitten?«
»An Alpträumen.«
»Versuchen Sie, sich zu erinnern, das ist wichtig für die Diagnose, sonst können wir sie nicht richtig behandeln«, bat der Arzt und versuchte es noch einmal: »Welche Krankheiten gab es in Ihrer Familie?«
»Alle starben gesund.«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Vielleicht gibt es ja Verwandte, die man fragen könnte?«
»Ja«, antwortete ich, ohne zu zögern, »Sie könnten alle bei einer Séance fragen.«
Der Arzt warf mir einen nachdenklichen Blick zu, entschuldigte sich kurz, ging aus dem Zimmer und kam nach ein paar Minuten mit Nilli zurück.
»Darf ich vorstellen«, sagte er in einem sanfteren Ton, »das ist Nilli, die Sozialarbeiterin der Station.«
Nilli, eine energische Frau, machte sich sofort an die Arbeit.»Es tut mir leid«, sagte sie tröstend. »Ich verstehe, daß Sie eine einzige Tochter sind, das ist hart, das ist sehr hart.«
Sie bot mir Wasser in einem Plastikbecher an. »Trinken Sie, beruhigen Sie sich, und dann werden Sie sich wieder erinnern und können die Fragen des Arztes beantworten.«
»Ich habe nichts zu erinnern, und ich habe nichts zu vergessen«, antwortete ich. Sie schaute mich verwundert an.
»Meine Mutter hat nie irgend etwas erzählt«, erklärte ich.
»Ach so«, sagte Nilli und lächelte verlegen.
Sie warf dem Arzt einen Blick zu und sagte leise: »Herr Doktor, wir haben hier einen Fall der zweiten Generation.«
Ende der Tage der Schiwa.
Tel Aviv, Anfang der neunziger Jahre: Helena, Elisabeths Mutter, ist gestorben. Während der Schiwa, der sieben Trauertage, ist Elisabeth wieder in dem
kleinen Viertel, in dem sie in den fünfziger und sechziger Jahren aufgewachsen ist, ein Viertel, in dem Überlebende der Shoah damals versuchten, sich ein neues Leben aufzubauen. Während Elisabeth in der Wohnung ihrer Mutter Schiwe sitzt und alte Bekannte bewirtet, werden Erinnerungen an Freunde und Nachbarn aus Kindheit und Jugend wach. Die meisten haben – wie Elisabeth – das Viertel schon vor vielen Jahren verlassen – oder sind im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973 ums Leben gekommen. Elisabeth, die allein mit ihrer Mutter aufwuchs, erkennt, daß sie doch nicht ohne Familie aufgewachsen ist. Das Viertel hier – »es war einmal eine Familie«.
Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv. Zuletzt erschienen die Romane Der Anfang von etwas Schönem (st 4046 ), Ruhige Zeiten (st
3832) und Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen? (st 3769).
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