Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Wiegenlieder, Heldenlieder, Loblieder über die Mutter und die Ahnen, Kampf- und Trauerlieder, Lieder zur nationalen Verteidigung, Spottgesänge über Feiglinge. »Mein Geliebter ist besiegt aus der Schlacht heimgekehrt«, singt eine Frau, »jetzt bereue ich den Kuss, den ich ihm letzte Nacht gab.«
Kharabat hat eine zweihundertjährige Geschichte. Als das Viertel nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aber von den Mudschaheddin bombardiert wurde, flohen die Musiker erst nach Pakistan und in den Iran, dann zogen viele weiter nach Europa, Kanada und in die USA. Die namhaftesten unter ihnen leben heute im Exil, und jene, die heimkehrten, ernähren sich oft unter kargen Bedingungen durch Unterricht, Verlobungen, Hochzeiten und Beschneidungsfeste. Selbst hier hat es die klassische und traditionelle Folklore schwer. Übernommen haben die Jungen mit Keyboards und Synthesizern und Playback-Soundanlagen, und manche von ihnen legen nur noch Kassetten ein.
Und doch: Kinder, die Bücher lesen, Mädchen, die die Schulbank drücken und nachmittags ein Instrument erlernen – auch solche Szenen kann man heute in der von Agha Khan gestifteten Musikschule in Kabul sehen. Die alten kulturellen Traditionen sind gegenwärtig. Inzwischen leben hier wieder fast dreihundert Musikerfamilien, und die Betreiber der Musikschule freuen sich über jeden, der die traditionelle Musik des Landes kennenlernen möchte. Der Unterricht ist kostenlos. Viele der mittlerweile etwa einhundert Studenten und Studentinnen kommen extra dafür aus entfernten Stadtteilen.
Mirwais Siddiqi, der Leiter der Musikschule sagt: »Wir sind in einer reichen Kultur aufgewachsen. Und dazu gehört die Musik. Sie ist ein Teil von uns, so wie auch die Dichtkunst. Meine Großmutter war Analphabetin, doch sie konnte die Gedichte unserer klassischen Dichter Saadi und Hafis rezitieren. Und wo es Dichtung gibt, gibt es auch Musik. Unser Ziel ist es, das Wissen der klassischen afghanischen Musik aus Kharabat nicht verlorengehen zu lassen, sondern es an die nächste Generation weiterzugeben. Damit wir eines Tages nicht sagen müssen, wir haben alle Traditionen verloren und stehen vor dem Nichts, so wie es mit vielen anderen Sachen bereits geschehen ist.« Ehemals gab es sogar Medizin- und Kochbücher in Versform.
In der Klasse für Tablas sitzen heute zwanzig Schüler im Schneidersitz auf Teppichen, die entlang der Wand auf dem Boden ausgebreitet sind. Sie lauschen ihrem Meister. Die meisten tragen die typische Kleidung der Region, den Shalwar-Kamiz, die Pluderhose mit den langen Hemden. Einige aber sind westlich gekleidet. Der Lehrer erklärt die verschiedenen Rhythmen. Auch ein Mädchen aus einem Viertel der Altstadt findet sich hier, das mit Freude ihre ersten Rhythmen trommelt.
Es bleibt dennoch schwer vorstellbar, was hier einmal beheimatet war. Da hörte man die starken Stimmen überall auf den Gassen. Die Menschen blieben stehen, sammelten sich in Grüppchen. Manchmal fielen sie ein, manchmal beglückwünschten sie die Virtuosen, und manchmal lächelten sie einfach nur vor Erleichterung über die Tröstungen, die von der Musik ausgehen, von den Versen. Man kann sich in westlichen Gesellschaften oft nicht recht vorstellen, wie wichtig die Schönheit der Kunst ist, wie tief sie reicht, wie profund das Wissen um die Kultur, wie verbreitet die Lust ist, selbst Verse zu schreiben. Die Feier des Schönen ist, wo Kriege, Besatzer, religiöse Autoritäten so lange die Künste regulierten, Teil eines Aufbruchs.
Ihn fassen vor allem die ins Auge, die das Land nicht verlassen haben, die es von innen verändern wollen. Bisweilen reden sie mit Spott und meist ohne viel Zutrauen von jenen Exilafghanen, die auch »Hundewäscher« genannt werden, weil sie sich im Westen angeblich zu würdelosen Beschäftigungen im Dienst der Reichen herablassen und weil sie die unmittelbaren Leiden des Krieges nicht kennen. Doch allzu vertraut sind sie mit seinen mittelbaren.
Es sind Millionen afghanische Flüchtlinge, die sich heute in Pakistan, vor allem in Peschawar, unter oft trostlosen und weitgehend rechtlosen Umständen durchbringen müssen. Politisch scheint sich niemand wirklich verantwortlich für sie zu fühlen. Wenn sie Glück haben, schaffen es die Mädchen und Frauen in die wenigen Schulen und Handwerksbetriebe, wo sie Ausbildung und manchmal auch ein Auskommen finden. Meist hängen an diesen Stellen ganze Familien. Ich habe versucht, einige der Stimmen von Frauen aus diesen
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