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Escape

Escape

Titel: Escape Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Rush
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schlotterte ich. Er hatte sich bisher noch nicht beklagt, doch seine Lippen waren blau und er sah fürchterlich blass aus.
    Zwei Stunden nachdem wir das Restaurant verlassen hatten, bogen wir rechts in die Old Brook Road ein. Große, knorrige Äste alter Mammutbäume hatten sich über der Straße ineinander verflochten. In der Luft lag der erdige Geruch von Ackerboden - gepflügte Erde, Heu, Dünger. Eigentlich hätte ich das ziemlich ekelerregend finden müssen, doch der Geruch schien eine tief vergrabene Erinnerung zu wecken.
    Am ersten Briefkasten, den wir passierten, prangte die Nummer 2232. Ein kaputtes Lastauto stand in der Auffahrt, der hintere Kotflügel war komplett verrostet.
    Der Regen hatte wieder eingesetzt, dicke Tropfen klopften auf den schon völlig durchnässten Stoff des Mantels. Sam fuhr sich mit der Hand über den Kopf, um sich den Regen aus den Haaren zu streichen. Meine Schuhe quietschten und platschten bei jedem meiner Schritte.
    Als Nächstes kamen wir an einem bewirtschafteten Hof vorbei, ein wuchtiges viktorianisches Wohnhaus, dahinter eine Gruppe von Scheunen. Kühe muhten auf dem Feld. Ein Hund bellte von der Veranda zu uns herüber.
    Wir liefen an einem weiteren Haus vorbei. Und noch einem.
    Und dann waren wir da: 2644 Old Brook Road.
    Das verlassene Gebäude war ein flacher Bungalow. Die ehemals weiße Fassade hatte ein schmutziges Grau angenommen. Ein paar der Fenster waren eingeschlagen, vereinzelte Scherben steckten noch in den Rahmen. Die Auffahrt war grasüberwuchert und kaum noch zu erkennen. Zedern begrenzten das Grundstück auf der linken Seite und versperrten so die Sicht auf den nächsten Nachbarn. An die andere Seite schloss ein Waldstück an, der Boden war von Kiefernnadeln übersät.
    Wieder wurde der Regen stärker, klebte mir die Haare ans Gesicht. Wasser tropfte von Sams Nase.
    »Bist du dir wirklich sicher, dass du da reinwillst?«, fragte er.
    Ich schaute mir das Haus genau an. »Mir bleibt nichts anderes übrig, oder?« Ich schlug mich durch das hohe Gras und rannte die Stufen zur Veranda hinauf. Die vernachlässigten Bretter knarrten unter meinem Gewicht. Endlich vor dem Niederschlag geschützt, wischte ich mir kurz den Regen vom Gesicht, während Sam schon durch die verzogene Haustür trat. Doch dann überließ er mir den Vortritt.
    Wir standen im Flur, die Holzdielen waren staubig und löchrig. Spinnweben hingen in den Ecken von der Decke. Eine verschlissene Couch stand rechter Hand im Wohnzimmer. Ich ging weiter, in den hinteren Teil des Hauses, wo sich die Küche befand. Die Türen hingen von den Schränken wie gebrochene Flügel. Ein altmodischer Herd stand vor dem Fenster, das den Blick auf die Zedern freigab. Ich versuchte, mir die Familie vorzustellen, die hier gewohnt hatte. Der Vater am Tisch sitzend, die Zeitung lesend. Die Mutter am Herd stehend. Zwei Töchter, die sich gegenseitig durch das Haus jagen.
    Es wirkte so, als würden Erinnerungen in den Spinnennetzen hängen und nur darauf warten, dass jemand sie daraus befreite. Wenn ich das schaffte, wären sie dann wieder meine?
    Wir liefen den gleichen Weg zurück und folgten dann dem Flur bis zum Ende, bis zu einem Schlafzimmer. Ein Himmelbett stand in der Mitte, doch die Matratze fehlte. Spinnen hatten ihre eigenen Vorstellungen von Vorhängen zwischen den Stäben des Gestells umgesetzt. Ich warf einen Blick in den Schrank, in dem sich nur eine leere Kleiderstange und in der hinteren Ecke ein Haufen vergessener Gegenstände befand. Ich ging in die Hocke, um sie mir genauer anzusehen.
    Eine Haarbürste. Ein Schnürsenkel. Eine zerrissene Zeitung. Eine kleine Schmuckschachtel.
    Ich zog die Schachtel hervor und öffnete den safranfarbenen Deckel. Darin lag ein aus Papier gefalteter Kranich, eine Kette mit Kunstperlen und ein in der Mitte geknicktes Foto, dessen Ecken eingerissen waren.
    Der Zahn der Zeit hatte das Material spröde gemacht, und als ich es auseinanderfaltete, brach eine Ecke ab und segelte auf den Boden. Ich setzte mich vorm Fenster in den Schneidersitz, damit ich im spärlich einfallenden Licht besser erkennen konnte, was auf dem Foto war.
    Mir stockte der Atem. Es war die Aufnahme eines Mädchens. Und das Mädchen war ich.
    Mit zehn. Meine Haare waren in einen hohen Pferdeschwanz zusammengefasst, doch ein paar Strähnen hingen mir ins Gesieht und verbargen meine braunen Augen. Hinter mir stand Dani. Sie sah aus wie fünfzehn oder sechzehn. Während meine Haare hell waren, lag ihre Haarfarbe

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