Escape
irgendwo zwischen dunkel- und kastanienbraun. Wir sahen uns nicht ähnlich, zumindest nicht so, wie man das von Geschwistern erwartete. Aber wir hatten die gleichen Sommersprossen und die gleiche schmale Nase.
Ich hielt das Bild fest in den Händen und plötzlich spürte ich etwas. Eine Erinnerung, einen Wunsch, ein Gefühl, ich konnte es nicht sagen. Aber ich wusste, dass uns etwas verband. »Sie war wirklich hübsch.«
Sam schwieg, Regen tropfte von ihm auf den Boden. Er hatte sich gegen die Wand zwischen der Tür und dem Schrank gelehnt, seine Schulter das Einzige, das ihn aufrecht hielt. Seine Augen waren fest geschlossen, so als hätte das Bild von Dani eine neue Welle von Erinnerungen ausgelöst und mit ihnen die zugehörigen Gefühle. Sein Mund zuckte und die feinen Fältchen um seine Augen vertieften sich.
Ich ging zu ihm und schlang ihm die Arme um den Hals.
»Kannst du dich an sie erinnern?«, fragte ich, meine Stimme durch seinen Brustkorb gedämpft.
»Ich weiß zumindest wieder, wie ich mich mit ihr gefühlt habe.«
»Erzähl's mir.«
Er schüttelte den Kopf, als wären ihm diese Gefühle zu fremd und er unfähig, sie in passenden Worten wiederzugeben. »Glücklich. Geborgen.«
Am liebsten hätte ich gefragt: Und wie fühlst du dich mit mir? Aber dahinter steckte nichts als Egoismus und Eifersucht, und niemals hätte ich genug Mut aufgebracht, um diese Worte auszusprechen. Die Angst vor der Antwort war zu groß - der Antwort, dass ich nicht das Gleiche in ihm auslösen konnte wie Dani. Doch war das noch wichtig? Dani war meine Schwester. Sam hatte meine Schwester geliebt.
Ein Blitz erleuchtete die dunklen Ecken des Zimmers, der Donner folgte sogleich.
»Wir sollten weitersuchen«, sagte Sam, seine Stimme klang bleischwer in der Stille zwischen den einzelnen Donnerschlägen.
Ich warf einen weiteren Blick auf das Bild, das ich noch immer in der Hand hielt. Ich konnte die Geister des Hauses um mich herum spüren, sie hießen mich willkommen. Willkommen zu Hause.
Sam ging zur Tür. Ich faltete das Foto und steckte es in meine Hosentasche, leise hoffend, dass der Regen nicht das einzige Andenken an ein Leben zerstören würde, an das ich sonst keinerlei Erinnerungen besaß.
31
Sam und ich teilten uns auf, um die restlichen Zimmer abzusuchen. Ich nahm mir die Küchenschränke und die Speisekammer vor. Es war nicht leicht vorauszusehen, wo sich der nächste Hinweis versteckte, aber ich wollte nichts übersehen, egal wie unscheinbar es auf den ersten Blick sein mochte.
In der Diele überprüfte ich einen Garderobenschrank, der sich jedoch als leer entpuppte. Ich durchquerte gerade das Wohnzimmer, da hörte ich ein Rumpeln aus dem Bad.
»Sam?« Schnell rannte ich den Flur entlang und fand ihn schließlich auf dem Rücken liegend. »Was ist passiert?«
Er blinzelte ein paarmal, als könnte er nicht richtig sehen. Dann rollte er sich auf die Seite und kniete sich hin. »Verdammt«, murmelte er, während er sich vollständig aufrichtete. Ein Blitz erhellte für den Bruchteil einer Sekunde das Haus. In diesem kurzen Lichtschein wirkte sein Gesicht aschfahl.
»Hattest du einen Flashback?«
Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Mir geht es gut.« Dann schob er mich vor sich her durch den Flur.
»Ganz sicher?«
Endlich sah er mich an. »Ja, ich bin einfach nur müde.«
Wir hatten die ganze Nacht über kein Auge zugetan, und während ich im Auto wenigstens ein paar Stunden geschlafen hatte, war Sam sicher wach geblieben.
Wir steuerten wieder die Diele an. »Und was machen wir jetzt?«, fragte ich. »Hier im Haus ist nichts, das uns weiterhilft. Wir müssen irgendetwas übersehen haben.«
»In der Nachricht stand, dass, wenn ich erst einmal am richtigen Ort bin, die Tätowierung den Ausgangspunkt markiert. Ich dachte, damit war die Adresse gemeint, aber vielleicht bildet die Tätowierung ja auch den Ausgangspunkt ab.«
»Die Birken sind ein wiederkehrendes Thema.«
Wir gingen nach draußen. Zwar hatte es aufgehört zu regnen, während wir im Haus gewesen waren, doch die dunklen Wolken hatten sich noch immer nicht verzogen. Die Bretter der hinteren Veranda knarrten schlimmer als die vorn, weshalb ich so wenige und große Schritte wie möglich machte.
Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schaute ich auf. Sofort klappte mir die Kinnlade runter.
Birken. Überall. Mindestens einhundert.
»Wie sollen wir denn da jemals die richtigen Bäume finden?«, fragte
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