Escape
ich.
Sam stellte sich neben mich. »Es muss noch einen Hinweis geben.«
Ich ging alles in Gedanken noch einmal durch. Die Narben. Die Nachricht, die Sam sich selbst hinterlassen hatte. Die Hinweise, die in die Rinde tätowiert waren. Als mir zu all dem nichts einfiel, setzte ich gedanklich noch einmal von vorn an. Das Schwarzlicht. Der Code. Das Foto...
»Hast du das Foto von dir und Dani noch?«
Kommentarlos fischte Sam das Bild aus seiner Tasche und gab es mir. Darauf standen Sam und Dani vor vier Birken. Sams Tätowierung bestand aus vier Birken. Das konnte kein Zufall sein. Ich hielt das Foto hoch und verglich die Bäume. Die Stämme der Birken vor uns waren viel zu dick, und selbst wenn man davon ausging, dass die Bäume über die Jahre gewachsen waren, stimmten sie nicht mit denen auf dem Foto überein. Ich konzentrierte mich auf weitere Details und plötzlich wurde ich ganz aufgeregt, als mir die Kühe im Hintergrund auffielen.
»Sieh mal. Wir sind doch auf dem Weg hierher an einem Hof mit Kühen vorbeigekommen. Vielleicht stehen die Bäume, die wir suchen, ja da hinten irgendwo.« Ich zeigte nach links. »Wäre ja auch irgendwie nachvollziehbar, dass du die Sachen nicht ausgerechnet da versteckst, wo die Sektion als Erstes suchen wird. Sie liegen sicher hier in der Nähe, aber so nah dann auch nicht.«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Sam und schon waren wir unterwegs durchs Unterholz.
***
Ich hatte keine Ahnung, wie lange oder wie weit wir gegangen waren, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. So als wären wir im Kreis gelaufen. Irgendwann lichtete sich dann doch endlich der Wald und vor uns erschien der Hof, den wir auf dem Hinweg passiert hatten. Kühe weideten auf der Wiese. Der alte Traktor, der auf dem Bild im Hintergrund gestanden hatte, war verschwunden, aber die Landschaft an sich sah noch genauso aus.
Wir folgten dem Zaun bis an seinen äußersten Punkt. Von dort liefen wir weiter Richtung Norden, in der Hoffnung, den Ort wiederzuentdecken, an dem Sam und Dani sich auf dem Foto befanden.
Vereinzelte Birken wiegten sich im Wind, doch nirgendwo formierten sich vier davon wie auf dem Foto oder Sams Tätowierung. Als wir so weit von dem Hof entfernt waren, dass wir ihn fast nicht mehr sehen konnten, stießen wir endlich auf eine Baumgruppe, die eventuell passte. Wir suchten die Stelle, an der derjenige gestanden haben musste, der die Aufnahme gemacht hatte. Im Lauf der Jahre waren die Bäume höher gewachsen, die Stämme breiter geworden. Ihre Äste waren nackt, die Rinde schälte sich an manchen Stellen in langen Streifen ab.
Sam und ich standen Schulter an Schulter und starrten auf das Motiv, das vor uns lag. Sam hielt die Aufnahme hoch, wir waren definitiv am richtigen Ort.
»Die Birken stimmen bloß nicht mit der Tätowierung überein«, sagte er.
»Trotzdem kommt mir das irgendwie bekannt vor. Irgendwas -«
Die unzähligen Kopien, die ich von dem Bild angefertigt hatte, auf dem meine Mutter am See saß, fielen mir plötzlich ein. Ich hatte unglaublich viel Zeit darauf verwendet, jedes Detail des Fotos bis ins Kleinste zu analysieren, damit die Zeichnung auch stimmte. Die Schatten, die Lichtpunkte, die Winkel der Bäume. Ich wusste, worauf ich achten musste, damit alles richtig aussah. Und irgendetwas stimmte nicht, irgendwie passten Sams Bild und die Tätowierung nicht zusammen.
Anna, denk nach.
Das Foto war völlig in Ordnung, da war, soweit ich das beurteilen konnte, nichts verändert oder retuschiert worden. Die Winkel stimmten, die Proportionen, die Schatten - »Die Schatten!«
Sam runzelte die Stirn. »Was ist damit?«
In meinem Kopf formte sich ein Muster. Vor uns stand eine große Birke, ein kleines Stückchen dahinter ein schmalerer Baum. Dann folgte eine Lücke von vielleicht einem Meter, an die eine krumme Birke anschloss. Ungefähr dreißig Zentimeter daneben stand ein weiterer schmaler Baum.
Ich kannte diese Abfolge.
»Dreh dich um«, sagte ich. »Zeig mir noch mal deine Tätowierung.«
Sam griff nach dem Saum seines Hemds und hob es bis zu den Schultern an. Ich schaute mir noch einmal die Schatten an, die die Birken auf seinem Rücken warfen. Sie stimmten nicht. Ich hatte sie für einen Fehler des Tätowierers gehalten, doch vielleicht zu Unrecht.
Ich hielt das Foto neben Sams Rücken und prüfte die Schatten von links nach rechts. Große Birke vor einem schmaleren Baum. Lücke. Krumme Birke. Lücke. Schmaler Baum.
»Die Schatten deiner Tätowierung
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