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ESCORTER (German Edition)

ESCORTER (German Edition)

Titel: ESCORTER (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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den Weg abzuschneiden. Wollten sie ihr etwa den Apfel abjagen? Doreé zögerte. Sollte sie ihr zu Hilfe eilen?
    Was du auch siehst, halt dich raus, hatte ihre Mutter gesagt. Als sie der Frau beim Graben geholfen und ihr den Apfel gegeben hatte, hatte sie sich eingemischt. Dies war das Resultat.
    Während sie noch mit sich haderte, sah sie, wie die Frau zu Boden geworfen wurde und unter der Meute versank. Schreie, gefolgt von einem widerlichen Knacken, hallten durch die Stille. Dann ein gurgelnder Laut.
    Übelkeit stieg in Doreé empor bei der Vorstellung, was da zwischen den Ackerkrumen geschah. Was war so wertvoll an dem schrumpeligen Ding, dass die Verlorenen sich gegenseitig verletzten? Was auch immer es war, ihretwegen musste die Frau nun leiden. Sie war so dumm gewesen.
    Schweren Herzens wandte sie sich ab und ging davon, verbot sich einen weiteren Blick zurück. Nach einer Weile sah sie in der Ferne einen schwarzen Schemen, der sich bis an den Rand des Himmels erhob, wie eine Säule, auf der eine leuchtende Kuppel ruhte. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich um einen Baum handelte. Den größten Baum, den sie je zu Gesicht bekommen hatte – und den hässlichsten. Die Rinde grau und zerfurcht. Nicht ein einziges Blatt zierte die grotesk verdrehten Äste und Zweige, nur schrumpelige Äpfel hier und da. Die Wurzeln hoben sich aus der Erde, so hoch, dass sie aufrecht hindurchgehen konnte.
    Neben dem Baum stand ein Haus, das sie kannte. Es war das Glashaus, ihr Zuhause. Regelrecht winzig wirkte es gegenüber dem Baum, eher wie ein Puppenhaus und zudem fehl am Platz. Die Fenster waren dunkel, kein Licht brannte hinter dem Glas. Beklommen ging sie darauf zu und überlegte, ob sie es betreten sollte, als sich wie von Geisterhand die Eingangstür öffnete. Ganz klar eine Einladung.
    Zaghaft lugte sie hinein. Auch im Inneren glich es ihrem Zuhause, nur dass es farblos und düster anmutete, als würde ein grauer Schleier über allem liegen. Im Wohnzimmer, mit dem Rücken zu ihr, saß ein Mann.
    »Hallo?«, rief Doreé.
    »Komm her«, sagte der Mann, ohne sich nach ihr umzudrehen. »Nimm Platz.« Seine Stimme klang erschreckend vertraut.
    Beklommen trat Doreé in den Wohnbereich und sank auf das Ledersofa. Der Mann vor ihr war von unbestimmtem Alter, doch handelte es sich zweifellos um ihren Vater, so wie er aussehen würde, wenn ihn ihre Mutter nicht in ein menschliches Wrack verwandelt hätte. Er trug einen seiner maßgeschneiderten Anzüge, die Doreé so wenig hatte leiden können, weil das Tragen des Anzuges gleichbedeutend war mit seiner Abwesenheit. Doch er konnte nicht wirklich hier sein, an diesem Ort. Ein Bote des Herrn endete nicht in der Gegenwelt, oder? Der Blick, mit dem ihr Vater sie musterte, verstärkte ihr Misstrauen, denn weder war er väterlich noch von irgendeinem anderen positiven Gefühl durchdrungen. Er betrachtete sie wie ein Objekt.
    Sie schluckte den Kloß hinunter, der ihre Kehle zuschnürte. Trotzdem klang ihre Stimme wie ein Krächzen. »Bist du mein Vater?«
    Ein Lächeln zerteilte seine Lippen. Er schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht.«
    »Wer sind Sie dann?«
    »Ich bin der, der dir das Tor zeigt«, antwortete er.
    »Was ist, wenn ich Gäap nicht finde oder mich nicht mit ihm verbinden möchte?«
    Die Augen des Mannes zuckten zum Fenster hin. »Dann endest du wie die da draußen. Verloren und ewig suchend.«
    Doreé folgte seinem Blick und erschrak. Vor der Fensterfront standen die Verlorenen, ordentlich aufgereiht wie Soldaten, und stierten mit leerem Blick in das Haus. »Sind sie gefährlich?«, fragte Doreé.
    Der Mann lachte. »Nein. Sie können dir nichts tun.«
    »Was wollen sie?«
    »Einen Apfel«, erwiderte er schlicht.
    Doreé runzelte die Stirn. »So einen, wie ich ihn gefunden habe? Warum?«
    Der Mann zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Sie hoffen auf Erlösung, wenn sie einen Apfel vom Baum der Erkenntnis kosten.«
    Baum der Erkenntnis. Irgendwo hatte sie das schon mal gehört. Damals, im Religionsunterricht. Sie deutete auf den Baum, der sich als dunkler Schemen hinter den Verlorenen abzeichnete. »Ist das der Baum aus der Bibel?«
    Nun schmunzelte der Mann amüsiert. »Ja, ja. Das ist er in der Tat.« Er beschrieb einen Halbkreis mit seinem Arm. »Dies, meine liebe Doreé, war einst das, was die Menschen das Paradies nannten, bis die ersten Kinder des Herrn von den verbotenen Früchten gekostet haben.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Nein? Das

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