ESCORTER (German Edition)
Gleichgewicht der Welt.« Er streckte seine Hände seitlich von seinem Körper weg mit den Handflächen nach oben. »Eine Waage, Doreé. Wo Licht ist, findest du auch Dunkelheit, und wo die Dunkelheit regiert, gibt es auch Licht. Es mag verborgen sein, doch es ist da.«
Doreé runzelte die Stirn. »Was bedeutet das?«
»So wie Satan nicht den wahren Schrecken erschaffen darf, kann der Herr keine vollendete Schönheit erschaffen, ohne eine Versuchung, die alles vernichten kann. Und so wuchs der Baum der Erkenntnis als Gleichgewicht zwischen den Welten. Doch die ersten Kinder waren schwach, so wie die Menschen es nun mal sind, und sie aßen von den verbotenen Früchten und das Paradies verdorrte und starb.«
Das klang unglaublich in Doreés Ohren und sie brauchte einen Augenblick, um es zu verdauen. Die Geschichten in der Bibel waren nur Geschichten für sie gewesen, Märchen. Die Erfindung eines menschlichen Geistes. Umso mehr bestürzte es sie, dass scheinbar alles, was darin geschrieben stand, auf einer eigenen Wahrheit beruhte.
»Aber warum wollen die Verlorenen dann einen solchen Apfel finden? Und warum pflücken sie nicht einfach einen von dem Baum?«
Der Mann klatschte in die Hände und lachte verzückt. »Das ist das Wunderbare daran. Nur ein gefallener Apfel befreit sie aus dem Garten Eden. Doch natürlich fallen sie selten, fast nie, sodass die Verlorenen danach gieren wie nach einem einzigartigen Schatz. So sehr, dass sie sich gegenseitig zerfleischen, sobald einer von ihnen eine Frucht findet. Auf diesem Weg verhindern sie ihr Entkommen.«
Unwillkürlich dachte Doreé an das Gerangel um den Apfel, den sie der Frau geschenkt hatte. »Können sie denn überhaupt sterben?«
»Nein. Sie werden zermalmt, ihre Knochen gebrochen, gequetscht, gemartert, ausgeweidet, doch sie sterben nicht. Stattdessen liegen sie da und warten, bis ihre zerschlagenen Körper heilen, was natürlich eine Weile dauern kann.« Die Vorstellung schien ihn zu amüsieren, denn er legte einen Finger an die Lippen und blickte versonnen zum Fenster hin. »Sieh sie dir an, die erbärmlichen Kreaturen, wie sie flehen und verzweifeln.«
Widerwillig betrachtete Doreé die Verlorenen, auf der Suche nach der Frau, der sie den Apfel geschenkt hatte. Sie konnte sie nicht finden. »Liegt sie zwischen den Ackerfurchen? Die Frau, der ich den Apfel gegeben habe?«
»Ganz bestimmt tut sie das. Möchtest du sie sehen?« Er rieb die Hände aneinander, als könne er es kaum erwarten, ihr den hilflosen Kadaver zu zeigen. Etwas Gieriges lag in seinem Blick.
Doreé wollte die Frau nicht sehen, den Anblick ihres geschundenen Körpers könnte sie nicht ertragen. Sie wollte nur noch weg von diesem schrecklichen Ort. »Nein«, sagte sie. »Wo finde ich Gäap? Ist er hier?«
Er seufzte. »Nein. Den Manipulator findest du erst, wenn du das Tor durchschreitest.«
Als er sie nach draußen führte, sammelten sich die Verlorenen hinter ihnen und folgten ihnen in einer schweigenden Prozession. Ihre Augen glühten vor fiebriger Erwartung. Nervös blickte Doreé immer wieder zurück. Der Mann legte eine Hand auf ihren Rücken. Die Kälte seiner Haut drang durch ihr Kleid. »Vertrau mir, Doreé. Sie werden dir nichts tun.«
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie ihn. »Und warum ähneln Sie meinem Vater?«
Er lächelte sein humorloses, unergründliches Lächeln. »Mein Name ist Danjal, ich bin der Bruder deines Großvaters.«
Doreé hielt jäh inne. »Ich verstehe nicht. Ich dachte, mein Vater sei ein Bote des Herrn?«
»Ich bin ein gefallener Engel, mein Kind. Als ich hörte, dass du kommst, um dich mit einem Manipulator zu verbinden, wollte ich dich unbedingt persönlich begrüßen und dich auf den richtigen Weg geleiten.«
Doreé wollte ihn fragen, was er getan hatte, um ein gefallener Engel zu werden, doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel und ein Grollen erklang gleich einem fernen Gewitter. Leuchtende Flecken zerteilten die Düsternis, blitzten auf wie eine elektrische Entladung.
»Oh verdammt«, schimpfte Danjal, »das ist jetzt aber ungünstig.«
»Was ist?«, fragte Doreé und sah sich hektisch um. Die Verlorenen wichen zurück, duckten sich ängstlich zwischen die Ackerfurchen.
»Ein unerwarteter Neuzugang. Ich bin der Nächste am Übergang und muss ihn willkommen heißen.« Er klang verwundert, fast schon ungläubig, als wäre ein unerwarteter Neuzugang etwas Ungehöriges, ja fast Besorgniserregendes.
»Geh zum Baum und berühre die
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