ESCORTER (German Edition)
blicken, schloss sie die Augen. Das Kleid schlackerte um ihren Körper. Das Flattern des Stoffs war, zusammen mit dem Wind, der um ihre Ohren brauste, das einzige Geräusch.
War David tot? War sie deshalb gefallen? Was würde geschehen, sobald sie den Boden erreichte? Würde sie sterben? Wie lange würde sie noch fallen?
Die Fragen streiften ihre Gedanken und huschten vorbei, haltlos wie ihr Körper, wie der Wind, den sie nicht zu fassen bekam. Bilder blitzten vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr Vater. Ophelia. David. Ihre Mutter. Der Zorn verdrängte Angst und Verwirrung. Vielleicht sollte sie sterben, schon alleine, damit ihre Mutter ebenfalls starb.
Sie fiel. Nichts änderte sich an der undurchdringlichen Schwärze um sie herum. Irgendwann fiel sie langsamer. Das konnte sie an ihrem Kleid spüren und an dem Nachlassen des Windes.
Und dann stand sie plötzlich still. Sie riss die Augen auf, versuchte, etwas von der Umgebung zu erkennen. Einen panischen Moment lang sah sie absolut nichts, hörte nur ihren keuchenden Atem, der in der Finsternis verhallte. Dann wich die Schwärze einem dunstigen Grau, das immer mehr an Kontur gewann. Vorsichtig tastete sie nach einem festen Untergrund. Nichts. Sie schwebte in der Luft wie ein Ballon.
Unter ihr hob sich etwas empor, eine dunkle, unförmige Masse, die das Grau durchbrach und sich ihr entgegen streckte. Sie versuchte sich in eine aufrechte Position zu bringen, was ihr nach kurzem Schwanken schließlich gelang. Ihre Füße berührten weichen, unebenen Boden. Ein riesiger Acker, wie ihr ein Blick in die immer heller werdende Umgebung bestätigte. Soweit das Auge reichte, zogen sich wie von Riesenhand gepflügte, kniehohe Ackerkrumen über die dunkelbraune Erde. Nebelschwaden glitten durch die Furchen, umspielten Doreés nackte Füße. War das der Garten Eden, von dem ihre Mutter gesprochen hatte?
Das Grau verlor sich in zunehmender Helligkeit und die Helligkeit verdichtete sich zu gleißendem Licht. Doreé beschattete ihr Gesicht. Das Gleißen schmerzte in den Augen. Über ihr spannte sich eine leuchtend-weiße Fläche, die nur wenig gemein hatte mit dem Himmel, den sie kannte. Viel zu hell und viel zu tief hing er über ihrem Kopf. Den Quell der blendenden Helligkeit konnte sie nicht ausmachen. Weder gab es eine Sonne noch eine vergleichbare Lichtquelle. Die Luft, die in Doreés Lungen strömte, war so kalt, dass sie beim Ausatmen kondensierte. Kalt und dünn, als befände sie sich auf dem Gipfel eines Berges. Schlotternd umschlang sie sich selbst und rieb sich über die Oberarme. Zu ihrer Rechten nahm sie eine Bewegung wahr. Hagere Gestalten, die gebückt über das Feld schlurften. Alle paar Schritte hielten sie inne, hockten sich zwischen die aufgeworfene Erde, verschwanden aus ihrem Blickfeld, nur um sich einige Sekunden später wieder aufzurichten. Etwas Unheimliches ging von ihnen aus. Eine tiefe Melancholie, die der Erde selbst zu entströmen schien wie ein schwerer Duft. Da die Gestalten wie Menschen aussahen und die einzigen Lebewesen weit und breit waren, beschloss Doreé, in ihre Richtung zu gehen. Wenn es sich um die verlorenen Escorter handelte, konnten sie ihr sicher Auskunft über ihren Standort geben oder Informationen über das Tor.
Die Trostlosigkeit dieses Ortes drückte auf Doreés Gemüt. Verzweiflung hing in der Luft, sickerte in den Boden unter ihren Füßen wie giftiger Regen. Nichts war menschlich oder weltlich an diesem Ort oder erinnerte sie auch nur entfernt an Gottes Schöpfung. Mit jedem Schritt fiel Doreé das Laufen schwerer, als hätte sich ihr Gewicht vervielfacht. Mühevoll setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Erde unter den Nebelschwaden fühlte sich kühl an und saftig, wie fruchtbares Land, doch wohin sie auch blickte, nichts wuchs an diesem Ort. Nicht einmal ein trockener Zweig oder ein Grashalm. Den Garten Eden, wenn es sich denn um diesen handelte, hatte sie sich wahrlich anders vorgestellt.
Mittlerweile waren die Gestalten so nah, dass sie erste Details erkennen konnte. Manche trugen kaum mehr als Lumpen am Leib und keine Schuhe oder solche, die ihnen fast von den Füßen fielen, weil die Absätze, die Sohlen oder die Schnürsenkel fehlten. Andere wiederum sahen recht ordentlich aus, trugen Anzüge oder teure Kleider. Und dann gab es jene, die irgendwo dazwischen hingen, bei denen die Kleider noch als solche erkennbar waren, die aber durch Schmutz und Abnutzung langsam an Substanz verloren. Die Gestalten machten
Weitere Kostenlose Bücher