ESCORTER (German Edition)
Rinde. Dann wird sich das Tor öffnen«, fuhr Danjal fort. »Vielleicht folge ich dir, wenn ich hier fertig bin.«
Damit ging er davon. Die Verlorenen folgten ihm, schlichen geduckt hinter ihm her, wie geprügelte Hunde. Die Dunkelheit löste sich auf, hinterließ den Himmel wie zuvor. Und doch glaubte Doreé, eine Unebenheit zu spüren. Die Anwesenheit von etwas, was nicht so recht zu diesem Ort passen wollte.
Sie eilte auf den Baum zu, schlängelte sich zwischen den unglaublich großen Wurzeln hindurch und kam vor dem Stamm zum Stehen. Nun, da sie ihn so nahe vor sich hatte, wurden ihr die Ausmaße umso deutlicher. Sicher würde es fünfhundert Mann oder mehr benötigen, um ihn zu umfassen. Zaghaft berührte sie die Rinde, ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Warm und lebendig fühlte es sich an. Der Boden unter ihr begann zu vibrieren. Erschrocken blickte sie nach unten. Die Erde verblasste. Alles um sie herum löste sich auf, sogar der Baum. Bestürzt beobachtete sie, wie der Garten Eden verschwand. Ein Ruck fuhr durch ihren Leib, als würde sie fallen. Reflexartig breitete sie die Arme aus, versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Der Boden veränderte sich. Rau und hart fühlte er sich nun an. Schemenhafte Gebilde materialisierten sich aus dem Zwielicht und gewannen schnell an Kontur.
Verwirrt sah Doreé sich um. Vor ihr entfaltete sich die apokalyptische Version einer Großstadt. Leer stehende Hochhäuser aus Beton, die Fassaden grau und kalt. Endlose, dunkle Straßen, auf denen die Fahrbahnmarkierungen leuchteten wie neonfarbene Wegweiser. Ein kalter Wind riss an ihrem Kleid, peitschte ihre Haare ins Gesicht. Schatten huschten zwischen den Häusern umher. Bis auf ein Wispern war es still wie in einer Gruft. Kein Laut erfüllte diese Welt mit so etwas wie Leben oder Menschlichkeit. Blattlose Bäume, Gerippen gleich, krallten sich in den Asphalt.
Doreé legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf. Keine Wolken, keine Sonne, kein Mond oder Sterne. Nichts als ein endloses, düsteres Grau, durchbrochen von den Wurzeln des Baumes der Erkenntnis, die am Himmel schwebten wie riesige Schlangen. Ihre Haut kribbelte, und als sie an sich hinabblickte, sah sie, dass sie golden schimmerte. Ein bizarrer Anblick in dieser farblosen Welt. Wie ein Edelstein in einem Berg aus Unrat.
Schimmerte sie wegen ihres Vaters Blut?
Was auch immer es verursachte, sie war überzeugt davon, dass jeder Dämon und jede verlorene Seele in einem Umkreis von vielen Meilen sie sehen, sie riechen, ihre Anwesenheit würde spüren können.
Niemand kann dich sehen, solange du mit niemandem sprichst, hatte ihre Mutter gesagt. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht gelogen oder sich geirrt hatte. Vielleicht konnten die Dämonen normale Menschen nicht sehen, solange sie nicht sprachen, aber wie sah es mit der Tochter des Boten aus?
25
Endlich, nachdem sie ihn abwechselnd verhört und mit ihren endlosen Gebeten gefoltert hatten, brachten sie Jakob in sein Zimmer zurück. Vom stundenlangen Stehen tat ihm der Rücken weh und seine Muskeln waren völlig verkrampft. Müdigkeit und Erschöpfung lasteten auf ihm wie ein Umhang aus Blei. Mehr als alles andere sehnte er sich nach Schlaf.
Seit dem Kuss hatte er Irina nicht mehr zu Gesicht bekommen. Allerdings war er viel zu müde, um sich darüber zu sorgen. Der permanente Schlafentzug forderte seinen Tribut. Waschen, Zähneputzen, Essen, ja selbst Trinken und das Verrichten seiner Notdurft mutierten zu Nebensächlichkeiten. Eine Tatsache, die vor wenigen Tagen noch undenkbar gewesen wäre. Langsam, aber sicher verlor er sich und alles, was ihn ausmachte. Vielleicht wussten diese Gideonisten doch, was sie taten. Vielleicht würde er eines Tages tatsächlich anfangen, zu sprechen oder eine geistige Verbindung zu seiner Schwester herstellen können. Ohne sich auszuziehen, sank er aufs Bett und schlief auf der Stelle ein.
Er träumte. Von Doreé, wie sie ganz allein über ein weites Feld wanderte. Barfuß. Ihr langes Haar wehte im Wind, schlug ihr immer wieder ins Gesicht. Sie strich es nicht zurück, ließ es einfach flattern. Plötzlich wandte sie sich ihm zu und sah ihn an. Ihre zweifarbigen Augen waren voller Sanftmut und Schönheit. Lächelnd hob sie die Hand und hielt ihm einen schrumpeligen Apfel hin. »Der ist für dich, Jakob.«
Schwungvoll wurde die Tür aufgestoßen und schlug mit einem Knall gegen die Wand. »Aufwachen, Blondschopf«, rief
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