Eselsmilch
meinem Alter sein, dachte Fanni, sechzig oder sogar darüber.
Sie
warf einen Blick auf Ottos Frau, doch die hielt die Augen auf das Tischtuch
gesenkt und schwieg.
Fanni
versuchte sich zu erinnern, ob sie seit Beginn der Reise schon mehr als einen
knappen Satz aus Wiebkes Mund gehört hatte. Sprach Ottos Frau irgendeinen
Dialekt? Der Vorname Wiebke deutete jedenfalls darauf hin, dass sie nicht aus
Bayern stammte.
Hört
sich nach Waterkant an!
Fanni
hob die Schultern. Waterkant. Der Name Wiebke konnte ebenso gut in der
Lüneburger Heide beheimatet sein.
Wiebkes
lange, kastanienrot gefärbte Haare waren nach vorn gefallen und verhüllten ihr
Gesicht wie ein Vorhang.
Besser
so! Bestimmt trägt sie wieder diese gekränkte Miene zur Schau! Kennt man ja
seit der allerersten Begrüßung auf dem Frankfurter Flughafen! Was die gute
Wiebke wohl derart angesäuert hat? Nussknacker-Ottos borstiges Verhalten?
»Hubert«,
sagte Elke, »wie lautet eure Antwort?«
Hubert
versuchte, seine Lider zu heben, die heruntergesackt waren. Unter seinen Augen
hatten sich riesige Tränensäcke gebildet. Er setzte zum Sprechen an, ließ es
dann aber bleiben.
Fanni
warf einen Blick auf die Rotweinflasche. Sie war leer.
Warum
säuft er so viel?, fragte sie sich. Er ruiniert sich die Gesundheit damit.
Hubert ist bestimmt keinen Tag älter als Dieter Horn, aber –
–
aber man könnte ihn beinahe für dessen Großvater halten!
Fanni
schüttelte gereizt den Kopf. Diese Stimme in ihrem Kopf machte sie rasend.
Hubert
hatte seine Hand auf Doras Arm gelegt und sachte draufgeklopft.
Da
sagte Dora müde: »Nichts, was wir tun, kann Martha wieder lebendig machen. Ob
wir nach Hause fliegen oder den Toubkal besteigen, Martha wird nicht dabei
sein.« Sie verstummte, aber alle sahen sie erwartungsvoll an. Ihre Entscheidung
über Abbruch oder Fortsetzung der Reise hatte Dora damit noch nicht mitgeteilt –
oder?
Dora
brütete schweigend vor sich hin.
Im
Gegensatz zu Huberts verweichlichter Physiognomie hatte sie eher herbe
Gesichtszüge und ein geradezu eckiges Profil.
Das
mir irgendwie bekannt vorkommt, sagte sich Fanni.
Hatten
die Seegers beim Vorstellungsgespräch nicht erwähnt, sie würden in Dingolfing
wohnen?
Liegt
nicht gerade in unserm Landkreis, überlegte Fanni, aber auch nicht so weit weg,
dass mir Dora nicht irgendwann über den Weg gelaufen sein könnte. Im Caprima
zum Beispiel.
Lieber
Himmel, Fanni! Du warst nicht mehr im Dingolfinger Erlebnisbad, seit Leni BH s trägt!
Dann
halt woanders, kapitulierte Fanni vor ihrer naseweisen Gedankenstimme.
Vielleicht beim Wandern im Bayerischen Wald. Dora sieht aus, als könnte sie
tagelang marschieren.
Sie
wirkt überhaupt recht tüchtig!
Ja,
dachte Fanni. Aber trotzdem scheint ihr etwas zu schaffen zu machen. Kein
Zweifel, zwischen ihren Augenbrauen steht eine tiefe Falte.
»Wollt
ihr die Reise nun fortsetzen oder nicht?«, nörgelte Elke.
Dora
schreckte auf. Bevor sie etwas sagen konnte, lallte Hubert: »Okay, okay, machen
wir halt weiter in drei Teufels Namen. Auf zu den Berg-Berabern.«
Und
damit war Sprudel an der Reihe. »Was wohl Martha wollen würde?«, fragte er in
die Runde. »Dass wir alle kurzerhand nach Hause fliegen und sie im
Alltagsstress vergessen? Oder dass wir mit ihrem Bild in unseren Gedanken das
Atlasgebirge durchqueren und seinen höchsten Gipfel besteigen?«
Fanni
hatte, während Sprudel sprach, ihre Lippen wieder wund beißen müssen und wusste
nun nicht, wie sie auch nur ein einziges Wort herausbringen sollte, ohne laut
zu schluchzen. Aber sie konnte es sich nicht ersparen, sie musste deutlich
machen, dass sie die Reise durchgeführt haben wollte.
Einzig
und allein wegen Martha, dachte sie, um vielleicht doch noch Genaueres über den
Unfallhergang zu erfahren. Ausschließlich für Martha, wiederholte sie in
Gedanken, denn wie viel angenehmer wäre es, auf der Stelle diesem verfluchten
Land den Rücken kehren zu können, in dem meine beste Freundin ihr Leben lassen
musste?
Unversehens
erkannte Fanni, dass sie ganz Marokko dafür zu hassen begann.
Wie
dumm, wie töricht! Wie unprofessionell!
Ob
ich das Land nun hasse oder liebe, hielt Fanni ihrer Gedankenstimme entgegen,
was spielt es für eine Rolle?
Du
wirst es mit voreingenommenen, verstockten Gefühlen durchqueren, keinen Blick
für seine Schönheiten, seine Vorzüge haben!
Ich will gar
keinen Blick für seine Vorzüge haben, konterte Fanni störrisch.
An
Elke gewandt sagte sie gepresst, aber
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