Eskandar: Roman (German Edition)
einen Mann für mich zu finden, der mich schlägt, dann ist Ihnen das bestens gelungen; denn dieser hier schlägt mich täglich. Zwar habe ich begonnen zurückzuschlagen, und das nicht schlecht, und es hat den Kerl überrascht, aber nun greift er zum Stock und sogar zum Messer. Und er ist dazu übergegangen, mich ohne Essen im Haus einzusperren, während er ins Teehaus geht. Verehrter Vater, Ihre Tochter leidet Hunger, und ich bete zu Allah, Sie werden eine gütige Seele finden, die Ihnen diesen Brief vorlesen kann. Ich bitte Sie, mich abzuholen und aus dieser Hölle zu befreien. Aber beeilen Sie sich, falls sie Ihre Tochter noch einmal lebend sehen wollen.
Die Frau bezahlt den Brief und ist schon beinah in die nächste Gasse eingebogen, als sie noch einmal zurückkommt, sich wieder vor Eskan dar-Agha hockt und ihn durch das Tuch anstarrt, bis sie genügend Mut findet, ihm noch einen letzten Satz zu diktieren. Verehrter Vater, das erste Kind, das ich geboren habe, ist nur ein Mädchen. Er behandelt das Kind wie einen Straßenköter, beendet die Frau schluchzend den Brief.
Eine andere, ältere Frau kommt regelmäßig zu Eskandar und diktiert ihm Rezepte gegen Krankheiten, Schwächen und schlechte Stimmungen. Die Briefe gehen an ihre Tochter, die sie einem Mann in Teheran zur Frau gegeben hat.
Woher wissen Sie, an welchen Schwächen und Krankheiten Ihre Tochter gerade leidet?, fragt Eskandar.
Das sehe ich in meinen Träumen, antwortet sie und diktiert, ihre Tochter soll ihren Goldring in ein Glas Wasser legen und das Wasser am nächsten Morgen ihrem Mann zu trinken geben. Das wird ihn beruhigen, und er wird Dich in Ruhe lassen. Und Du, mein geliebtes Kind, mische etwas Safran in deinen Tee, das reinigt das Blut, und Du wirst wieder zu Kräften kommen.
Einer seiner anderen regelmäßigen Kunden ist ein Mann, der sich Briefe von seinem Sohn vorlesen lässt, ohne selber auch nur eine einzige Antwort an ihn zu diktieren. Es sind keine neuen Briefe, und es sind immer wieder dieselben drei oder vier. Unter Tränen erzählt der Mann, mein Sohn ist nicht mehr in dieser Welt. Gott hat ihn mir genommen. Alles, was mir von ihm geblieben ist, sind diese Briefe.
Während Eskandar vorliest, hockt der Mann mit geschlossenen Augen da und murmelt jedes Wort leise mit.
Es ist ein Unterschied, wenn ich mir die Briefe selbst vorsage oder ich sie mit der Stimme eines anderen höre, sagt der traurige Alte. Wenn ein anderer sie liest, kommt es mir ein wenig vor, als würde mein Sohn noch am Leben sein und selbst zu mir sprechen.
Ein junger Mann kommt zu Eskandar-Agha, sieht ihn aus schmachtenden Augen an und diktiert ihm Worte, die schöner sind, als sogar Eskandar-Agha sie sich hätte ausdenken können. Es ist eine Liebes erklärung an ein Mädchen mit dem Namen Shirin. Meine schöne Shirin, diktiert der Mann, es ist mein sehnlichster Wunsch, Dein Farhad zu sein und Dich wie aus dem alten Märchen Farhad und Shirin zu lieben und zu begehren. Shirin, das Herz in meiner Brust brennt in Sehnsucht nach Dir.
Ohne dass Eskandar ihn danach fragt, erzählt der junge Mann, wie er sich in seine Angebetete verliebt hat. Sie wissen ja, sagt er, in heißen Sommernächten, wenn wir statt im Haus allesamt auf dem flachen Dach schlafen, meine Geschwister, Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel, und viel Vergnügen dabei finden, liegt das unter anderem auch daran, dass wir von da oben weit über die verwinkelten Gassen, Wege und Gärten hinwegsehen können. Die Nachbarn sind ebenfalls auf ihren Dächern, wir besuchen uns gegenseitig, die Kinder spielen miteinander, wir trinken Tee, essen Wassermelonen, spielen Backgammon und singen.
Seit ich ein kleiner Junge war, kenne ich die Tochter unserer Nachbarn, die schöne Shirin. Wir haben zusammen gespielt, sind über die Dächer der Häuser gerannt, haben Drachen steigen lassen, und sogar Seite an Seite in einem Bett haben wir geschlafen. Und eines Tages haben wir gemerkt, dass wir uns lieben, und uns gegenseitig versprochen, niemals einen anderen zu heiraten.
Doch dann ist die Zeit gekommen, in der meine Shirin ihr Haar bedecken musste und nicht mehr mit Jungen spielen durfte. Jetzt kann ich sie nur noch heimlich sehen, wenn sie auf dem Dach die Wäsche aufhängt oder die Betten und Moskitonetze für die Familie herrichtet.
In der alten persischen Geschichte von Farhad und Shirin, sagt Eskandar, verlangt Shirins Vater von Farhad, eine Kerbe in den riesigen Fels oberhalb der Stadt zu schlagen,
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