Eskandar: Roman (German Edition)
damit das Wasser aus den Bergen in die Stadt fließen kann, statt im Sand der Wüste zu versickern.
Als wir Kinder waren, hat meine Urgroßmutter mir diese Geschichte oft erzählt, antwortet der junge Mann. Der arme Farhad hat die Kerbe in den Fels geschlagen, aber dann ließ er sich täuschen und glaubte das Gerede der Leute, dass seine Shirin tot ist.
Und er hat sich mit dem Beil, mit dem er die Kerbe in den Fels geschlagen hatte, den Kopf abgetrennt, sagt Eskandar-Agha.
Und statt Wasser ist sein Blut in der Kerbe geflossen, sagt der Junge.
Ich hoffe doch, dass du nicht daran denkst, es ihm nachzumachen, ermahnt Eskandar-Agha den Mann.
Statt zu antworten, sagt der Junge, und als Shirin davon erfuhr, tat sie es ihm nach und nahm sich ebenfalls das Leben. Und seitdem hat die Kerbe im Felsen kein Wasser, sondern nur Blut in die Stadt gebracht.
Schreiben Sie meiner Shirin, dass auch ich bereit bin, mein Leben für sie zu geben, diktiert der junge Mann.
Nur zwei Tage später kommt ein schüchternes Mädchen zu Eskandar-Agha und bittet ihn mit leiser Stimme, ihr einen Brief vorzulesen. Eskandar-Agha weiß sofort, dass er diesen Brief selbst geschrieben hat und das Mädchen besagte Shirin sein muss. Sie hört aufmerksam zu, als Eskandar ihn ihr vorliest, und sie diktiert sofort eine Antwort an ihren Farhad.
Allah sei es gedankt, dass heutzutage der Wasserschlepper das Wasser bringt und es somit keinen Grund für Dich gibt, eine Kerbe in irgendwelche Felsen zu schlagen, und Dir am Ende auch noch eigenhändig und auf grausame Weise das Leben zu nehmen. Zumal ich nicht sehen kann, welchen Nutzen ein toter Mann für mich haben könnte. Nein, mein Lieber, diktiert das Mädchen selbstbewusst weiter, wenn Du mich wirklich liebst und zur Frau haben willst, ist alles, was du tun musst, Deinen Mut zusammennehmen und endlich bei meinem Vater vorstellig werden und um meine Hand anhalten.
Nicht alle seine Kunden wissen so genau wie diese mutige Shirin, was sie wollen und wie sie es am besten ausdrücken sollen, und bitten Eskandar-Agha, es für sie zu tun. Womit er in Angelegenheiten der Liebe und Eheschließungen, des Verkaufs und Kaufs von Grundstücken, der Regelung von Erbschaften, Besitzverhältnissen und vielen anderen Dingen des täglichen Lebens so manches Mal zum Berater oder sogar Lebensretter wildfremder Menschen wird.
Seit einiger Zeit kommen zwei Väter, die zu den wenigen Glücklichen gehören, deren Söhne von der Regierung Stipendien erhalten haben, um in Farang zu studieren.
Der eine Sohn soll Arzt werden und studiert in Alman, dem Land, dessen Produkte von herausragender Qualität sind. Der andere Sohn besucht die Universität in Farang, dem Land, aus dem die ersten Ausländer schon damals, als sie noch einen König hatten, den sie Napoleon nannten, in den Iran gekommen sind, weshalb man seither alle Ausländer Farangi nennt. Der Sohn in Faransse also soll Richter werden, seinen Briefen nach zu urteilen, scheint er jedoch nichts anderes im Sinn zu haben, als sich zu vergnügen.
Die Faranssawi nennen ihre Saifeh Madmasell und die älteren Madamm, schreibt der Sohn, und ich arbeite daran, eine von ihnen mit zu bringen, wenn ich dieses Paradies werde verlassen müssen.
Weil er es nicht übers Herz bringt, dem armen, immer zu Tränen gerührten und stolzen Vater die Wahrheit über seinen Sohn ins Gesicht zu sagen, spielt Eskandar-Agha einmal mehr Schicksal und liest: Lieber Vater, ich studiere fleißig und mache gute Fortschritte und hoffe, Sie und den Rest der Familie nicht zu enttäuschen.
Dem faulen Sohn schreibt Eskandar-Agha eigenmächtig zurück, lieber Sohn, bitte, nimm Deine Studien ernst, denn wir sparen jede Extramünze für Dich, und Du bist der Stolz unserer Familie.
Eskandar-Agha hat die Frau, die von ihrem Mann misshandelt und geschlagen wird, längst vergessen, da kommt sie wieder zu ihm. Dieses Mal hat sie ihr Kind dabei, weint ungehemmt und spricht wie zu einem alten Freund. Agha, außer Ihnen kenne ich niemanden in Schiras, dem ich vertrauen könnte, sagt sie, und bevor Eskandar-Agha auch nur ein Wort sagen kann und obwohl es sich nicht ziemt, lüftet sie ihren Schleier und zeigt ihm ihr geschwollenes und blutig geschlagenes Gesicht und die ausgeschlagenen Zähne. Er hat mich verprügelt und getreten, sagt sie. Ein paar meiner Knochen sind gebrochen, selbst das Atemholen tut weh. Ich will nicht mehr leben, sagt die Frau weinend. Ich bin nur zu Ihnen gekommen, um meinen letzten Brief zu
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