Esquivel, Laura - Bittersuesse Schokolade
schloß, wurden erneut die Szenen jenes Heiligabend des Vorjahres lebendig, als Pedros Familie zusammen mit anderen Nachbarn erstmalig bei ihnen zum Abendessen eingeladen war, und dann begann die Kälte unweigerlich noch heftiger zu stechen. Obwohl inzwischen geraume Zeit verstrichen war, erinnerte sie sich bis in jede Einzelheit an die Geräusche die Düfte, das Gefühl, wie ihr neues Kleid über den frisch gebohnerten Fußboden schleifte; und an Pedros Blick auf ihrem Rücken ... Was für ein Blick! Sie war auf den Tisch zugeschritten und hatte ein Tablett voll duftenden Eidotterkonfekts auf der Hand balanciert, bis sie unvermittelt eine Glut spürte, die sich ihr in die Haut einbrannte. Da wandte sie flugs den Kopf und schaute direkt in Pedros Augen. In diesem Moment spürte sie mit einem Mal, wie einem Schmalzgebäck zumute sein muß, wenn es mit siedendem Fett in Berührung kommt. So heftig durchfuhr die Hitze ihren Körper, daß Tita aus Furcht, sie würde sich wie der Spritzkuchen über und über mit Bläschen bedecken - im Gesicht, am Bauch, im Herzen, auf der Brust -, diesem Blick nicht weiter standzuhalten vermochte, die Augen niederschlug und hastig den Salon bis zum anderen Ende durchquerte, wo Gertrudis zum Walzer ›Augen der Jugend‹ in die Pedale des Pianolas trat. Dort setzte sie ihr Tablett auf einem Serviertisch ab, an dem sie vorbeikam, griff zerstreut nach einem Glas Noyo-Likör und nahm neben Paquita Lobo von der Nachbarfarm Platz.
Doch der räumliche Abstand von Pedro nutzte herzlich wenig; vielmehr spürte sie nun, wie ihr das Blut glühend heiß in den Adern aufstieg. Ein heftiges Rot ergoß sich über ihre Wangen, und es wollte ihr beim besten Willen nicht gelingen, auch nur einen winzigen Fleck im Raum auszumachen, wo sie ihren Blick hätte ruhen lassen können. Paquita war nicht entgangen, daß etwas mit Tita nicht stimmte, daher erkundigte sie sich besorgt: »Köstlich dieses Likörchen, findest du nicht auch?«
»Verzeihung?«
»Du scheinst nicht ganz bei der Sache zu sein, Tita; ist auch alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, doch, danke.«
»Du bist ja wohl alt genug, um zu besonderen Anlässen schon mal am Likör zu nippen, Liebchen, aber sag doch, hast du auch wirklich die Erlaubnis deiner Mama? Du bist ja völlig durcheinander und zitterst am ganzen Leib.« Dann hatte sie ihr mitleidig geraten: »Besser du trinkst nichts mehr, sonst bietest du uns allen noch ein Schauspiel!«
Das fehlte gerade noch, wenn Paquita Lobo dächte, sie sei betrunken! Sie konnte nicht zulassen, daß Paquita auch nur den mindesten Verdacht hegte, nicht daß noch ihrer Mutter etwas zu Ohren käme! Die Furcht vor ihrer Mutter ließ Tita für einen Moment lang Pedros Anwesenheit vergessen, und so versuchte sie nach allen Regeln der Kunst Paquita davon zu überzeugen, daß sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sei und einen glasklaren Kopf habe. Sie plauderten über einige Klatschgeschichten und Belanglosigkeiten. Sogar das Rezept des Noyo-Likörs, der Paquita solche Sorge bereitete, gab Tita preis. Dieser Likör wird auf der Basis von vier Unzen Herzpfirsichsamen und einem Pfund Aprikosensamen hergestellt, die über vierundzwanzig Stunden in einem Azumbre Wasser ziehen müssen, damit sich die Haut ablöst; dann werden sie geschält, zerhackt und vierzehn Tage lang in zwei Azumbres Branntwein eingelegt. Nun geht man zur Destillation über. Nachdem zweieinhalb Pfund zerstoßener Zucker vollständig in der Flüssigkeit aufgelöst sind, fügt man vier Unzen Orangenblüten hinzu, verrührt alles gut miteinander und gibt es durch einen Filter. Und damit auch nicht der geringste Zweifel mehr an ihrem körperlichen und geistigen Wohlbefinden herrsche, erinnerte Tita Paquita ganz nebenbei daran, daß ein Azumbre 2.016 Liter entspräche, nicht mehr und nicht weniger.
Als kurze Zeit später Mama Elena hinzutrat, um sich bei Paquita zu vergewissern, daß sie sich gut unterhielt, erwiderte diese vollauf begeistert:
»Ich amüsiere mich prächtig! Du hast fabelhafte Töchter. Einfach faszinierend, sich mit ihnen zu unterhalten!«
Mama Elena forderte Tita auf, etwas Eidotterkonfekt aus der Küche zu holen, um es den Gästen anzubieten. Pedro, der wie zufällig gerade vorbeikam, bot ihr sogleich seine Hilfe an. Tita lief eilig zur Küche, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Pedros Nähe brachte sie völlig aus der Fassung. Sie trat ein und wollte eine der Platten mit köstlichem Konfekt nehmen, die geduldig auf dem
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