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Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel de Montaigne
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der sich gegen ihn keinesweges verstellen kann; gleichwohl bedient er sich seiner, gerade wie man sich eines verlornen Menschen bedient als eines Vollstreckers der Urteile des Kriminalrichters, welches zwar ein nützliches Gewerbe ist, aber dennoch für unehrlich gehalten wird. Außer der Schimpflichkeit solcher Aufträge läuft auch etwas mit unter, was das Gewissen befleckt. Als die Tochter des Sejanus, nach gewissen rechtlichen Formen, die in Rom üblich waren, nicht mit dem Tode bestraft werden konnte, weil sie Jungfrau war, ward sie, um den Rechten freien Weg zu lassen, vom Nachrichter geschwächt, bevor er sie erdrosselte; nicht nur die Hand, sondern auch die Seele eines solchen Büttels sind blinde Werkzeuge, deren sich der Staat zu seiner Bequemlichkeit bedient.
    Als Amurath der Erste, um die Strafe derjenigen noch peinlicher zu machen, welche zu dem vatermörderischen Aufruhr seines Sohnes die Hände gereicht hatten, befahl, daß die nächsten Anverwandten diese ihre Hinrichtung mit eigenen Händen vollziehen sollten, fanden sich einige dieser Verwandten, welche sich lieber ungerechterweise für Mitschuldige des Vatermordes halten lassen als der Gerechtigkeit durch eignen Verwandtenmord dienen wollten, und das war nach meiner Meinung ehrlich gehandelt. Und wenn ich in einigen elenden Festungen, die man zu meiner Zeit einnahm, Schurken gesehen habe, welche, um ihr Leben zu schonen, sich es gefallen ließen, ihre Freunde und Mitgenossen aufzuhängen, so habe ich sie für elendere Geschöpfe gehalten als die gehängten. Man sagt, daß Witthold, ein litauischer Fürst, bei seiner Nation die Gewohnheit einführte, daß ein zum Tode verurteilter Verbrecher sich mit seiner eignen Hand abtun müsse, weil er es für unbillig hielt, daß ein Dritter, an dem Vergehen Unschuldiger, sein Gewissen mit einem Menschenmord belästigen sollte.
    Ein Fürst, der durch dringende Umstände oder durch irgendeinen unerwartet hereinbrechenden Zufall, der seinen Staat in Gefahr setzt, sich genötigt sieht, sein Wort und seine Zusage zu brechen oder sonst auf eine andere Weise gegen seine gewöhnlichen Pflichten zu handeln, muß diese Notwendigkeit für eine göttliche Strafrute halten. Laster ist es nicht, denn er hat seinen eigenen Willen und seine eigene Meinung dem allgemeinen und stärkern Willen unterworfen; aber ein Unglück ist es gewiß. Und einem, der mich fragte, was ist dagegen für ein Mittel, antwortete ich: "Gar keins, wenn er wirklich zwischen beiden Extremen keine Wahl hatte." Sed videat, ne quaeratur latebra periurio. 8 Er mußte so handeln; handelte er aber so ohne Widerwillen, war ihm wohl dabei zumute, da er so handelte, so ist das ein Zeichen, daß es mit seinem Gewissen mißlich steht. Fände sich einer, dessen Gewissen so zart wäre, daß ihm keine Heilung eines so verzweifelten Mittels wert schiene, den würde ich deswegen nicht weniger verehren. Er könnte sich auf keine ruhmwürdigere und redlichere Weise zugrunde richten. Wir können nicht alles, so oder so müssen wir oft unser Schiff der bloßen Führung des Himmels, als dem letzten Notanker, anvertrauen. Welcher gerechteren Not spart ein solcher Fürst sich auf? Was ist ihm weniger möglich zu tun als das, was er nicht anders als auf Kosten seiner öffentlichen Treue und seiner Ehre tun kann? Dinge, welche ihm vielleicht lieber sein müssen als seine eigene zeitliche Wohlfahrt und die Wohlfahrt seines Volks. Wenn er mit in den Schoß gelegten Händen weiter nichts tut, als Gott um seine Hilfe anrufen, muß er da nicht hoffen, daß die göttliche Güte ihre außerordentliche Hilfe einer reinen und gerechten Hand am wenigsten versagen werde? Es sind gefährliche Beispiele; seltene und ungebührliche Ausnahmen von unsern natürlichen Regeln; man muß ihnen nachgeben, aber mit großer Mäßigung und Behutsamkeit. Kein persönlicher Vorteil verdient, daß wir ihm zu Gefallen diesen Zwang unserm Gewissen antun; der Vorteil des Staats mache es, wenn er sehr offenbar und sehr wichtig ist.
    Timoleon stellte sich glücklich in Sicherheit, aber das Auffallende bei seiner Tat, dadurch, daß er helle Tränen weinte und sich erinnerte, daß eine brüderliche Hand den Tyrannen getötet habe, das war es, was billigerweise sein Gewissen folterte, daß er in der Notwendigkeit gewesen, die öffentliche Wohlfahrt um den Preis der Ehrlichkeit seiner Sitten zu erkaufen. Der Senat selbst, der durch ihn von der Dienstbarkeit befreit worden, wagte es nicht, über eine so

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