Essen kann jeder
Toten sein Essen gereicht. Stäbchen im Reis verderben einem Japaner den Appetit noch mehr als eine offene Morddrohung.
Auch in Indien herrscht übrigens zum Thema »Essenstransfer« über den Tisch eine sehr strenge Regel: Das Essen darf nur mit der rechten Hand weitergereicht werden, die Linke gilt als unrein und darf das Essen nicht berühren. Der einfache Grund hierfür lautet: Mit der Linken putzt man sich in Indien den Hintern ab. Was das Ganze so pikant macht? Nun, der Gebrauch von Toilettenpapier ist in Indien nicht unbedingt üblich. Wer das Essen mit der Linken überreicht, kann die Suppe auch in einer Kloschüssel servieren.
Generell ist das Thema »menschliche Bedürfnisse« bei Tisch natürlich heikel. Denn auch wenn das Schlürfen in Japan erlaubt sein mag, gilt Schnäuzen beim Essen als unverzeihlicher Fauxpas! Das liegt vielleicht auch am Essen: Quallensalat ist natürlich eine Delikatesse, eröffnet aber rein optisch ein heikles Assozia tionsfeld. Dazu braucht man nicht auch noch die entsprechenden Geräusche. Für das Schnäuzen in Japan ist somit das Aufsuchen des stillen Örtchens empfehlenswert.
Jedoch kann in bestimmten Kulturkreisen auch beim Gang auf die Toilette das Gefühl der Sittsamkeit verletzt werden: Wer in den USA während des Speisens den Lokus aufsuchen möchte, sollte dies unter keinen Umständen erwähnen. Amerika steht auf dem Standpunkt: Wir alle wissen, dass diese Dinge getan werden müssen, das ist schlimm genug, man braucht nicht auch noch darüber zu reden. Ich bin der Ansicht, unsere transatlantischen Freunde haben da nicht ganz unrecht. Das ist einfache Psychologie. Wenn man sagt: »Denken Sie nicht an einen Elefanten«, denkt man an einen Elefanten. Und wenn jemand sagt: »Ich geh auf Toilette«, hat man den Menschen schon mit heruntergelassener Hose vor seinem inneren Auge. In Amerika verlassen Sie einfach mit dem Verweis der baldigen Rückkehr den Tisch und suchen ohne weitere Erklärung das Klo auf, um zu … Na, Sie wissen schon.
Es ist in den USA auch nicht üblich, sich vor dem Essen einen guten Appetit zu wünschen. Schließlich ist der Grund, warum man zusammenkommt, nicht der Hunger, sondern die liebe Gesellschaft der Anwesenden. So höflich das auch klingen mag, viele Amerikaner bleiben ihrem Gast gegenüber auch heute noch vorsichtig. Einige zerschneiden ihre Steaks vollständig und führen die Häppchen einhändig Stück für Stück zum Mund. Die freie Hand ruht dabei locker im Schoß – eine Tradition aus Zeiten des Wilden Westens. Schließlich konnte man damals jeder zeit in eine Schießerei geraten. Falls Sie also in Texas einem einhändigen Esser gegenübersitzen, ist Vorsicht geboten: Vermeiden Sie ruckartige Bewegungen!
Wir sehen, die Unkenntnis über die Tischsitten fremder Völker kann auch beim Essen unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb ist dieses kleine Kapitel als Aufforderung gedacht, sich mit den Gebräuchen fremder Völker zu beschäftigen – und zwar bevor man den Last-Minute-Urlaub antritt. Nebenbei lehren die Sitten und Gebräuche anderer uns auch viel über die Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens.
Die strengsten Tischsitten in Europa sind sicherlich in Frankreich zu finden: Selbst das kleinste Schmatzen wird nicht toleriert. Die heiße Suppe kühler zu pusten gilt als unfein. Obst und Geflügel werden ausschließlich mit Besteck verzehrt. Auch der Salat sollte auf keinen Fall geschnitten, sondern gefaltet werden. Warum nicht gleich die Salatblätter von Origamikünstlern zu Schwänen knicken lassen? Gleichzeitig existieren in der französischen Küche höchst geschmacklose Grausamkeiten: So ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem die sogenannte Stopfleber produziert wird. Dabei wird die Leber von Enten und Gänsen durch Zwangsernährung krankhaft vergrößert, indem ein Stopfrohr durch den Schlund in die Speiseröhre eingeführt und mit Druckluft ein Futterbrei in den Magen gepresst wird. Damit diese Mastform überhaupt handhabbar ist, werden die Tiere ihr kurzes Leben lang in winzige Drahtgestelle gezwängt. In den meisten Ländern ist dieses Vorgehen natürlich aus Gründen des Tierschutzes verboten. In Frankreich ist die »Foie gras« zum nationalen Kulturerbe erhoben worden.
Doch Sie können beim Verzehr von Stopfleber oder ähnlichen Sauereien noch so weit den kleinen Finger abspreizen, es wird kein zivilisierter Akt daraus. Denn Manieren ohne Moral sind nur Kostümierung. Und hinter der
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