Essen mit Freunden - Roman
sehnlichst Geschwister gewünscht, mit denen sie die Verantwortung, die sie nun spürte, hätte teilen können. Es war nicht so, dass ihre Mutter hilflos war oder
etwas von Luise eingefordert hätte, doch Luise war sich sicher, es wäre der Wunsch des Vaters gewesen, dass sie sich kümmert.
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»Du kommst mir heute vor wie die Berg«, sagte Svenja. »Du hängst schon den ganzen Tag am Telefon. Hast du etwa auch Stress zu Hause?« Sie kicherte. »Der Vorteil bei dir ist allerdings, dass du dabei nicht so keifst wie sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte sie sich wieder über den Bildschirm.
Luise griff erneut zum Hörer: »Frau Berg? Kann ich heute ein bisschen früher Schluss machen? Ich muss da noch was erledigen. Was Familiäres.« Dann schnappte sie sich ihre Tasche und den Autoschlüssel. Wenn sie gut durchkam, könnte sie in etwas mehr als einer Stunde dort sein.
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»Ach du meine Güte, Kind, ist was passiert?« Hedda Blum sah überrascht aus, als ihre Tochter vor der Tür stand.
»Bei mir nicht. Aber vielleicht bei dir?« Luises dunkelgraue Besorgnis hatte vor etwa zehn Kilometern ein paar wutrote Schlieren bekommen, die sie daran hinderten, ihrer Mutter voll Erleichterung um den Hals zu fallen. Vor zehn Kilometern nämlich hatte sie es noch einmal auf dem Festnetz probiert. Es war besetzt gewesen. Und vor fünf Kilometern immer noch. So lange konnte niemand auf den Anrufbeantworter sprechen. Also musste jemand zu Hause sein.
»Was soll denn passiert sein? Mir geht's gut«, sagte Hedda Blum fröhlich. »Ich wollte gerade Kaffee kochen. Hast du Hunger?«
Luise nickte. Die Unbekümmertheit ihrer Mutter machte sie sprachlos. Und natürlich hatte sie Hunger. Vor lauter
Sich-Sorgen-Machen hatte sie den ganzen Tag kaum etwas hinunterbekommen.
»Ich habe frischen Hefekuchen da. Mit Ãpfeln. Petzolds haben mir vorgestern noch einen Eimer Boskop rübergebracht. Du kannst dir gern welche mitnehmen. Und der Kürbis hinten im Garten ist auch reif. Den kannst du nachher gleich ins Auto packen.«
Luise lief hinter ihrer Mutter her wie ein Entenküken, durch den Flur in die Küche, zum Schrank, Kaffeegeschirr, Kuchengabeln, alles wie immer. Erst beim Griff zum Milchkännchen kam es ihr vor, als würde sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachen.
»Kannst du dir eigentlich vorstellen, dass ich mir Sorgen gemacht habe?«, fragte sie schlieÃlich und musste sich sehr beherrschen, dass ihr Ton nicht zu scharf geriet.
»Warum denn?«, fragte die Mutter verblüfft.
»Weil ich seit gestern Abend versucht habe, dich zu erreichen, aber es war immer nur dein Band dran. Und das Handy, das ich dir gegeben habe, benutzt du ja nie.«
»Ach je. Hast du es oft probiert? Ich wollte gestern noch bei dir anrufen, bevor ich losgefahren bin, um dir zu sagen, dass ich weg bin. Es hat sich ganz spontan ergeben. Aber bei dir war besetzt, und ich musste los, sonst wären die Karten weg gewesen. Und dann, na ja, habe ich es irgendwie, hmmm â¦Â« Luises Mutter zögerte. »Ich habe es dann nicht noch mal probiert. Wir hatten uns ja schon nachmittags gesprochen. Du wusstest doch, dass es mir gutgeht.«
»Klar, du hast erzählt, dass du die Gardinen gewaschen hast und sie aufhängen willst. Aber dass du abends ausgehst, hast du nicht gesagt.«
Luise bemühte sich sehr, nicht wie eine Glucke zu klin
gen. Aber manchmal überkam sie aus heiterem Himmel eine Angst, dass ihrer Mutter etwas passiert sein könnte. Am liebsten hätte sie die Sache mit den Gardinen gestern gar nicht erfahren. Die meisten Unfälle passieren schlieÃlich im Haushalt. Ihre Mutter war noch sehr agil â fit genug für Tango!, dachte Luise bitter â, aber wie schnell kann man von einer Leiter fallen? Ein Stück Tüll auf der Leiterstufe, ein falscher Schritt â zack! Wer würde mitbekommen, wenn sie dann mit gebrochenem Bein hilflos auf dem Teppich lag? Man steigert sich schnell in solche Fantasien hinein, wenn man der Angst erst einmal die Tür geöffnet hat.
»Aber wieso bist du dann heute Morgen nicht ans Telefon gegangen?«, fragte Luise weiter.
Die Mutter stocherte im Kuchen herum. »Weil ich heute früh nicht zu Hause war, darum!«, sagte sie schlieÃlich. Ein wenig Trotz in der Stimme.
»Hast du einen Arzttermin gehabt?«, fragte Luise besorgt, doch dann
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