Essen mit Freunden - Roman
eine Geste, und Luises kleines Boot kollidierte mit der Eisberg.
Sie hatte schon in der Morgenbesprechung gemerkt, dass die Stimmung im Hause Berg am vergangenen Wochenende wohl noch schlechter gewesen war als in den letzten zwei Monaten. Dazu brauchte Luise keine Wahrsagerin zu sein, sondern nur auf die Augenränder ihrer Chefin zu schauen, die durch eine Extra-Schicht porzellanfarbenen Concealer eher betont als gemildert wurden. Zwei auffällig helle Halbmonde unter geröteten Augen. Es war offensichtlich, wie der Konflikt im Hause Berg auf einen weiteren Höhepunkt zustrebte. Im Büro ballte sich die Anspannung seit Ende September wie eine dunkle Gewitterwolke zusammen. Luise schlief seit einer Weile schlechter. Nachts schreckte sie aus Träumen auf, in denen irgendetwas Gesichtsloses auf ihrem Brustkorb hockte und ihr die Luft abschnürte. Auch in der letzten Nacht war sie wieder atemlos aufgewacht. Nach einer Stunde Hin-und-her-Wälzen war sie aufgestanden, hatte dicke Socken angezogen und sich mit einem Becher heiÃer Honigmilch auf die Arbeitsplatte in der Küche gesetzt. In kleinen Schlucken hatte sie die süÃe Beruhigung getrunken
und sich dabei gefragt, wie lange sie das eigentlich noch mitmachen wollte. Sie war jetzt fünfundvierzig. Wollte sie mit fünfzig immer noch der Puffer zwischen Frau Berg und der Realität sein? Und selbst wenn sie es wollte â wie lange würde sie das überhaupt weiter durchhalten? Wie lange käme sie noch klar mit den Schlafstörungen, mit der Anspannung, mit der Wut? Aber eine Kündigung kam auch nicht in Frage, denn welche Alternative hatte sie zu ihrem Job im Schreibbüro? Allein bei der Vorstellung, wieder Bewerbungen schreiben zu müssen, wurde ihr übel. Noch übler, als ihr bei Text-Berg war.
Was konnte sie schon vorweisen? Sie hatte keine groÃartige Karriere gemacht, keine Erfahrungen in Führungspositionen, und sie verfügte nicht über nützliche Kontakte. Dass Text-Berg seit Jahren nur funktionierte, weil Luise als Einzige den Ãberblick über sämtliche Projekte hatte, ahnten zwar die meisten Geschäftspartner, doch Frau Berg würde ihr das sicher nicht in einem Arbeitszeugnis quittieren. Im Gegenteil. Luise kannte nur zu gut die Berg'schen FuÃangeln in den Beurteilungen derjenigen, die gegangen waren. SchlieÃlich war sie es, die alle Zeugnisse hatte tippen müssen. Und mit dem Zeugnis, das sie im Falle ihrer eigenen Kündigung zu erwarten hatte, würde sie den Kampf um eine Stelle gegen jede Zwanzigjährige, die mehr Kompromissbereitschaft und ein unverbrauchteres Lächeln zeigte, schon von vornherein verloren haben. Alle redeten über die Generation Praktikum. War Luise denn die Einzige in ihrem Alter, die keine Festanstellung ergattert hatte und sich von einem Zeitvertrag zum nächsten hangelte? Die bis jetzt keinen vernünftigen Rentenplan hatte oder Kinder, Familie, Doppelhaushälfte vorweisen konnte? Drückte sie sich insgeheim davor, Ver
antwortung zu übernehmen? Erwachsen zu werden? Konnte man ihr Leben wirklich auf diesen Nenner bringen, oder war das als Erklärung nicht doch etwas zu einfach?
Ãber diesem Gedanken hatte sie sich in der letzten Nacht mit angezogenen Knien auf der Arbeitsplatte hockend eine weitere Portion Honig in die Tasse geträufelt. Denn noch schlimmer als die namenlosen Nachtmahre, die sie aus dem Schlaf schreckten, waren die realistischen Horrorvisionen, die auftauchten, wenn sie alptraumverschwitzt aus dem Bett geflüchtet war. Sie hieÃen Zukunft , Absicherung und Rente . Bis zum Morgengrauen hatte Luise keine Ruhe gefunden. Daher war es kein Wunder, dass auch sie mit Augenrändern in der Frühbesprechung gesessen hatte. Nur waren ihre dezenter retuschiert.
Kurz vor der Mittagspause hatte sich die Gewitterwolke schlieÃlich entladen. Das erste Donnergrollen war über das Stockwerk hinweggefegt, als wütendes Geschrei aus dem Zimmer von Frau Berg erklang und der Rest der Büroetage den Atem anhielt. Kurz darauf waren Absatzschuhe von einem Ende des Flurs zum anderen gestürmt. Jeder Schritt ein weiterer Donner, der sich in Gehörgänge und Gemüter bohrte. Ohne Vorwarnung war Frau Berg dann vor Luises Schreibtisch wie ein Kugelblitz eingeschlagen. Luise hatte versucht, ihr Telefonat mit einer Postkartenfirma möglichst schnell zu beenden, denn Frau Berg war es egal, ob sie in etwas hereinplatzte
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