Essen mit Freunden - Roman
überschlug sie kurz, dass heute Morgen gegen halb sieben, als sie das erste Mal bei ihrer Mutter angerufen hatte, noch keine Arztpraxis geöffnet war. »Ohhhh«, sagte sie dann gedehnt, »du bist also gar nicht â¦Â« Sie sah ihre Mutter an, und dann starrte sie schnell auf ihr Kuchenstück. Ãber den Ãpfeln Streusel mit Zimt. Genau so, wie sie es mochte.
»Ich bin heute früh nicht hier gewesen, weil ich gestern Abend gar nicht mehr nach Hause gefahren bin.« Die Stimme ihrer Mutter gewann hörbar an Sicherheit. »Weil wir nach dem Theater noch etwas essen waren. Und du sagst doch immer, wenn ich mehr als ein Glas Wein getrunken habe, soll ich nicht Auto fahren.« Sie sah Luise herausfordernd an.
»Aber wenn du wusstest, dass du mit dem Auto fährst, wieso hast du dann â¦Â«
»Weil der Wein sehr gut war â und weil ich Lust dazu hatte.« Ein Satz, der keine weitere Frage und keinen Widerspruch duldete.
Luise hob den Blick, sah ihre Mutter an und fragte sich, wie gut sie sie wirklich kannte. Sie wusste, dass ihre Mutter gleich zwei SüÃstofftabletten in ihren Kaffee geben würde, und hatte die Geste, mit der sie dann den Löffel über der Tasse abtropfen lieÃ, unzählbar oft gesehen. Eine kurze, präzise Bewegung aus dem Handgelenk. Sie kannte jede Falte, jeden Altersfleck in ihrem Gesicht. Aber da war ein Leuchten, das Luise nie zuvor gesehen hatte. Als wären die Augen ihrer Mutter gröÃer als sonst, ein bisschen heller, der Blick klarer und weiter. Und das irritierte sie sehr.
»Wie lange kennst du ihn eigentlich schon?«, versuchte sie so gelassen wie möglich zu fragen.
»Paul? Gut vier Monate.«
»Und woher?«
»Er war auf Tante Gertruds Geburtstag. Ein alter Schulfreund von ihr. Er erzählte, dass er tanzen geht. Und du weiÃt doch, wie gern ich immer getanzt habe.«
»Ihr wart doch so gut wie nie tanzen, Papa und du«, stellte Luise überrascht fest.
»Das stimmt. Trotzdem habe ich immer gern getanzt.«
Luise sah ihre Mutter an. Plötzlich war da etwas sehr Aufrechtes in deren Haltung. Etwas, was Luise lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. Ihre Mutter war eine schöne Frau, immer noch. Ein klar geschnittenes Gesicht, leuchtend blaue Augen.
»Aber warum hast du mir nicht von ihm erzählt?«, fragte Luise.
»Weil ich befürchtet habe, dass du es nicht verstehst.«
Für einen Moment schwiegen sie beide. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Ein Kind lachte. Die Kirchturmglocken begannen zu läuten.
»Paul wird gleich da sein. Ich habe die Gardinen noch im Trockner. Er wollte mir helfen, sie aufzuhängen.«
Luise trank ihren Kaffee aus und schob den Kuchenteller zur Seite. »Ich muss los, Mama.«
»Willst du nicht noch bleiben? Du kannst ihn kennenlernen.«
»Tut mir leid, ich muss wieder zurück. Es war ja nicht geplant, dass ich komme.« Sie griff ihre Tasche und ging zur Tür. »Ich bin auch eigentlich noch verabredet.«
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Als Luise kurz vor der Autobahnauffahrt endlich Anne auf dem Handy erreichte, um zu fragen, ob sie gleich vorbeikommen könne, fiel ihr auf, dass sie weder den Kürbis noch die Ãpfel mitgenommen hatte.
âKartoffelbrei mit SoÃe
Luise schniefte, riss zwei Blatt Papier von der Rolle und schneuzte leise ihre Nase. Sie fühlte sich elend und verbot sich jeglichen Gedanken, der dieses Szenario kommentieren könnte. Sie wusste, wie dumm das alles von auÃen aussah. In Filmen verdienten Frauen in dieser Situation nur das Kopfschütteln der Zuschauer und ein mitleidiges Lächeln. Wie sie dort saÃ, heulend, mit einer Rolle Toilettenpapier im Arm, auf dem Klo von Text-Berg , Donnerstagmittag kurz vor eins. Im Kino hätte sie sich darüber lustig gemacht. Sie
hörte Schritte auf dem Flur, unterdrückte das Schniefen und lauschte. Die Schritte gingen an der Tür vorüber, wurden leiser, entfernten sich. Luise versuchte, durchzuatmen und sich zu beruhigen. Ewig konnte sie nicht hier sitzen bleiben.
In den Jahren bei Text-Berg hatte sie sich ein dickes Fell zulegen müssen, doch leider gab es in diesem Pelz immer noch dünne Stellen. Wochenlang schaffte es Luise auch in Krisenzeiten, durch die Tage im Schreibbüro zu navigieren, ohne dass es zu unangenehmen ZusammenstöÃen kam. Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes, fiel ein unbedachtes Wort, gab es eine Nachfrage,
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