Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Kompetenz oder Verantwortungsbewusstsein liegen; da in solchen Fällen die Unterstützung durch Familie oder Nachbarschaft nicht mehr selbstverständlich ist, werden heute durch diakonische und andere Initiativen neue Netzwerke der Unterstützung geknüpft. Der Mangel an Fürsorge für Kinder kann seine Ursache aber auch in materieller Not haben; wenn Kinder unter armseligen Bedingungen aufwachsen, liegt darin ein besonders dringlicher Appell an die Solidargemeinschaft. Familie, Nachbarschaft, bürgerschaftliche Initiativen und christliche Gemeinden sind in solchen Fällen genauso gefordert wie die Institutionen des Sozialstaats.
3. Sozialisation
Die Familie ist ein wichtiger Ort der Sozialisation, also der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt und ihrer Befähigung dazu, sich in dieser Umwelt zu orientieren.
Die Bedeutung der Familie für die Sozialisation lässt sich mit Hilfe von drei Unterscheidungen verdeutlichen. Zunächst stehen formelle und informelle Sozialisation einander gegenüber. Formell ist die geplante, absichtsgeleitete Persönlichkeitsbildung; informell ist das Lernen durch die Routinen des Alltagslebens. Zu den besonderen Stärken der Familie gehört der hohe Anteil informeller Sozialisation; vorausgesetzt ist dabei, dass es verlässliche Routinen des Alltagslebens gibt.
Zu unterscheiden ist ferner zwischen der Sozialisation von Eltern und Kindern. Die Familie ist auch für die Partner, die eine Familie gründen, eine Sozialisationsinstanz; in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Familienkulturen entwickeln sie gemeinsame Lebensformen und Lebensauffassungen. Diese Sozialisationsaufgabe gewinnt in einer pluralistischen Gesellschaft an Bedeutung, denn in ihr entschließen sich häufig Menschen mit unterschiedlichem religiösem, kulturellem, ethnischem und sozialem Hintergrund zu einem gemeinsamen Leben. Partnerschaften können an dieser Sozialisationsaufgabe scheitern, doch ebenso kann Integration in Familien auf exemplarische Weise gelingen.
Die wechselseitige Sozialisation von Eltern bildet eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung eines gemeinsamen Erziehungsstils; nur dann lässt sich verhindern, dass Kinder von den unterschiedlichen Bezugspersonen widersprüchliche, verwirrende Botschaften empfangen.
Schließlich ist zwischen primärer und sekundärer Sozialisation zu unterscheiden. Die primäre Sozialisation vollzieht sich in den überschaubaren Gruppen des Nahbereichs, allen voran der Familie; die sekundäre Sozialisation bezieht sich auf die Einführung in die moralischen Regeln des öffentlichen Bereichs. Die Schule steht auf der Grenze zwischen diesen beiden Sozialisationsformen; sie trägt deshalb besonders an der Last, die sich aus der Verschiebung der Gewichte von der primären auf die sekundäre Sozialisation ergeben.
4. Fürsorge
Als Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bewährt sich die Familie insbesondere dann, wenn alte, kranke oder behinderte Familienmitglieder betreut werden müssen. Im Alterswandel der Gesellschaft gewinnt diese Aufgabe an Bedeutung und wird zur Bewährungsprobe der familialen Generationengemeinschaft. Gewiss sind die Beziehungen zwischen den Generationen bisweilen von Konflikten geprägt; wächst die Notwendigkeit der Unterstützung, so muss die Grenze der Überforderung bedacht und das Verhältnis von Solidarität und Selbstbestimmung geklärt werden. Doch insgesamt zeigt sich gerade im Alterswandel der Gesellschaft ein Unterstützungspotential in Familien, das Würdigung und Stärkung verdient (vgl. Kapitel 19).
Familienpolitische Aufgaben
Am Beispiel der Familie zeigt sich ein wichtiger Grundzug der Ethik: Zu ihrem Kern stoßen wir nicht erst dann vor, wenn wir Maximen richtigen Handelns formulieren oder Forderungen gesellschaftlicher Gestaltung erheben, sondern die Wahrnehmung von Gegebenem ist genauso wichtig wie die normative Beschreibung von Aufgegebenem. Der Blick auf die Phänomene des menschlichen Lebens erschließt in vielen Fällen bereits den Zugang zu ihrem ethischen Gehalt. Das führt keineswegs zu einer reinen Situationsethik, denn wahrgenommen werden nicht nur einzelneSituationen, die eine ethische Antwort verlangen. Die Aufmerksamkeit richtet sich vielmehr auf Konstellationen menschlichen Zusammenlebens und deren ethische Qualität. Zur Familie gehört eine doppelte ethische Verpflichtung. Die Verpflichtung des Einzelnen richtet sich auf die Übernahme von
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