Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
neben Großeltern und anderen Verwandten auch Nachbarn oder Freunde gehören. Die Nachbarschaftshilfe, die sich in früheren Zeiten aus der Stabilität überschaubarer Lebensverhältnisse ergab, muss heute bewusst geplant und gestaltet werden; sie bezieht sich im einen Fall auf die Unterstützung von Familien nach der Geburt eines Kindes, im anderen Fall auf die Betreuung alter, oft alleinstehender Menschen. Es entstehen vielfältige, über die Kernfamilie hinausreichende «kleine Lebenskreise» (Biedenkopf 2009). Wohngruppen, die aus mehreren Familien bestehen, oder Familien, mit denen alleinstehende Freunde oder Verwandte zusammenwohnen, Mehrgenerationenhäuser oder Altenhöfe sind Beispiele dafür. Sie erweitern die Spielräume gesellschaftlicher Solidarität und sind ein wichtiges Beispiel für den Gedanken der Subsidiarität.
Den Familien muss nicht nur in der individuellen Lebensplanung, sondern auch in den gesellschaftlichen Werthaltungen und im politischen Handeln ein angemessener Stellenwert zuerkannt werden. Ebenso verdienen Alleinlebende und Alleinerziehende, Partnerschaften ohne Trauschein und homosexuelle Lebensgemeinschaften, Verantwortungsgemeinschaften zwischen Angehörigen unterschiedlicher Generationen oder auf Freundschaft beruhende Formen des gemeinsamen Lebens Achtung und Förderung. In all diesen Fällen geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Verlässlichkeit und Verantwortung stärken und der Vereinsamung der Menschen entgegenwirken. Ethisch ist es deshalb zu bejahen, dass für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ein eigener Rechtsrahmen geschaffen wurde; er unterstützt die Absicht, auf Dauer ein gemeinsames Leben in gegenseitiger Verantwortung zu führen. Wenn in «Regenbogenfamilien» ein Kind durch Geburt oder Adoption mit einer Partnerin oder einem Partner verbunden ist, ist es folgerichtig, auch der anderen Partnerin oder dem anderen Partner ein Adoptionsrecht zuzuerkennen. Damit strahlt der verfassungsrechtliche Schutz für Ehe und Familie (Art. 6, Abs. 1 des Grundgesetzes) auf die verschiedenen Lebensformen aus. Die herausgehobene Bedeutung von Ehe und Familie wird dadurch nicht gemindert. Doch nur das gelebte Ethos der Gesellschaft kann die Wertschätzung von Ehe und Familie mit Leben erfüllen; das staatliche Recht allein wäre damit überfordert.
3.
Beruf und Familie
Familienformen und familiäre Arbeitsteilung folgen heute nicht einem einheitlichen Muster. Über die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen wird frei entschieden. In vielen Fällen bildet die Berufstätigkeit beider Partner dafür die Grundlage; die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewinnt dadurch an Dringlichkeit. Paare, die dazu finanziell in der Lage sind, entscheiden sich gegebenenfalls auch für einen lebensphasenorientierten Wechsel zwischen Familienarbeit und Berufsarbeit. Es gibt keinen Grund dafür, diese Entscheidung durch ein für alle verbindliches Leitbild des berufstätigen Erwachsenen, des
working adult
, einzuschränken. Der gleiche Zugang von Frauen und Männern zur Berufstätigkeit ist sehr wohl eine verpflichtende Norm; eine solche Norm sagt aber nicht, dass alle Frauen und Männer von dieser Möglichkeit den gleichen Gebrauch machen müssen. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen schreitet voran; das ist ethisch zu begrüßen. Zugleich ist zu konstatieren, dass sich nach wie vor weit mehr Frauen als Männer für den Verzicht auf eine Berufstätigkeit um der Kinder willen oder für eine zeitweilige Berufsunterbrechung entscheiden. Es steht zu erwarten, dass diese Proportionen sich weiter verschieben werden; das wird vor allem Männern eine Revision ihres Rollenverständnisses abverlangen.
Die Fürsorge für die eigenen Kinder ist keineswegs die einzige Situation, in der sich die Spannung zwischen Erwerbsarbeit und
care
zeigt. Vielmehr umfasst der Begriff
care
, der in diesem Zusammenhang auch im Deutschen verstärkt verwendet wird, sowohl Versorgungs- und Erziehungsleistungen in der Kernfamilie als auch Fürsorgeleistungen von Großeltern gegenüber ihren Enkeln oder Pflegeaufgaben zwischen Erwachsenengenerationen. In all diesen Fällen stellt sich die Aufgabe, Berufsbiographie und Familienbiographie miteinander zu verbinden. Dafür ist zum einen erforderlich, dass Arbeitgeber in verstärktem Maß eine lebenslagenorientierte Personalpolitik betreiben und die Übernahme von Familienaufgaben durch geeignete Arbeitszeit-, Entlohnungs- und Beurlaubungsmodelle
Weitere Kostenlose Bücher