Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
eine Schutzmöglichkeit besteht. Es kommt in diesen frühen Entwicklungsphasen eines Embryos deshalb nicht so sehr auf dessen moralischen Status als solchen, sondern auf die Möglichkeit an, für ihn Verantwortung zu übernehmen. Deshalb ist es kein Wertungswiderspruch, wenn der Embryo
in vitro
vor der Implantation (Einsetzung) mit einem anderen Schutz umgeben wird als der Embryo
in vivo
vor der Nidation (Einnistung). Daraus, dass natürlich gezeugte Embryonen vor der Einnistung in den Uterus unerkannt abgehen können, lässt sich nicht schließen, dass überzählige Embryonen reproduktionsmedizinisch erzeugt und für verbrauchende Forschung freigegeben oder verworfen werden dürfen. Zur Diskussion kann deshalb nur stehen, ob «verwaiste» Embryonen, die gegen die ursprüngliche Intention nicht implantiert werden konnten, für ein hochrangiges Forschungsziel eingesetzt werden dürfen.
Doch die Absicht, «verwaiste» Embryonen zu Forschungszwecken zu verwenden, kann leicht dazu führen, dass von vornherein überzählige Embryonen hergestellt werden. Deshalb wurde in Deutschland für dieForschung mit embryonalen Stammzellen ein anderer Weg gewählt. Er berücksichtigt, dass Stammzellen
in vitro
über einige Zeit vermehrt werden können; auf diese Weise entstehen sogenannte «Stammzelllinien». Wenn man sicherstellen will, dass für Forschungsvorhaben keine Stammzellen von Embryonen verwendet werden, die zu anderen Zwecken als zur menschlichen Reproduktion hergestellt worden sind, kommt es darauf an, die Stammzelllinien auf ihren Ursprung zurückzuführen. Der Ausgangspunkt für die deutsche Regelung heißt: Nur embryonale Stammzelllinien, die vor einem in der Vergangenheit liegenden Stichtag im Ausland entstanden sind, können für ethisch geprüfte, hochrangige Forschungsvorhaben eingesetzt werden.
Die verantwortungsethische Betrachtung des Embryos
In den letzten Überlegungen habe ich einer verantwortungsethisch begründeten Schutzverpflichtung gegenüber einem in der Petrischale hergestellten Embryo den Vorrang vor einer Betrachtungsweise gegeben, die vom moralischen Status des menschlichen Embryos ausgeht. Unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob ein Embryo sich «als Mensch» oder «zum Menschen» entwickelt, kommt dieser Schutzverpflichtung eine hohe Evidenz zu; eine verantwortungsethische Perspektive kann die Gründe und die Reichweite dieser Schutzverpflichtung klären (vgl. Deutscher Ethikrat, Präimplantationsdiagnostik 2011: 48ff.).
Verantwortungsethik bezieht sich auf die Verpflichtungen, die sich aus den Beziehungen eines Menschen zu anderen Menschen, zu der ihn umgebenden Welt oder zu sich selbst ergeben. In der Perspektive des christlichen Glaubens ist dafür die Verantwortung vor Gott, also eine letzte Rechenschaftspflicht für die Führung des eigenen Lebens, grundlegend. In den Grundbeziehungen seines Lebens konkretisiert sich die Verantwortung des Menschen für seine Lebensführung. Als Prüfmaßstab für die Wahrnehmung dieser Verantwortung liegt der Kategorische Imperativ nahe, also die Pflicht, so zu handeln, «dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.» (Kant 1785/1786: BA66f.) Keinen Menschen darf man so zum Mittel und damit zum Objekt machen, dass er nicht mehr ein Zweck in sichselbst bleibt. Doch Verantwortungsethik beschränkt sich nicht auf den Umgang mit anderen Menschen. Auch wer bestimmte Formen menschlichen Lebens nicht «als Menschen», sondern als «Entwicklung zum Menschen» bezeichnet, steht zu ihnen gegebenenfalls in einer Verantwortungsrelation. Vergleichbare Verantwortungsrelationen gibt es selbstverständlich auch zur nichtmenschlichen Natur und zu der von Menschen geschaffenen Kultur.
Ein anderer Aspekt tritt hinzu: Zu den Pflichten verantwortlicher Lebensführung gehört die Berücksichtigung wahrscheinlicher oder möglicher Folgen. Diese Folgen können den einzelnen Adressaten individueller Verantwortung betreffen. Es können sich aber auch allgemeine Folgen dadurch ergeben, dass eine von Einzelnen begonnene Handlungsweise Schule macht und dadurch zu einem «allgemeinen Gesetz» wird. Auch wenn man sagt, dass menschliche Embryonen sich nicht «als Menschen», sondern «zum Menschen» entwickeln, muss man die Überlegung anstellen, welche Folgen sich ergeben können, wenn man reproduktionsmedizinisch hergestellte Embryonen wie bloße Sachen behandelt.
Aus
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