Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
müssen so gefördert werden, dass sie zumindest einen mittleren Leistungsstandard erreichen. Ebenso wie Begabte – das heißt in der Regel genauer: bereits zu Hause Geförderte – auch in der Schule gefördert werden sollen, verdienen auch diejenigen Förderung, die es von Hause aus schwererhaben. Sie auf ihre Startbedingungen festzulegen, ist moralisch nicht zu vertreten. Andere europäische Länder zeigen, dass es durchaus möglich ist, sich im Bildungswesen am Maßstab der Befähigungsgerechtigkeit zu orientieren. Für spätere Bildungschancen kommt der Elementarbildung in der frühen Kindheit entscheidende Bedeutung zu.
Dass Bildung das beste Mittel gegen Armut ist, gilt nicht nur für hoch entwickelte Gesellschaften. Am Problem des Hungers zeigt sich, dass vor allem die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern von Mangelernährung betroffen ist. Dieser Zustand kann überwunden werden, wenn lokale Kompetenz gestärkt wird und Kleinbauern lernen, die Nahrungsmittelversorgung durch Anbaumethoden zu verbessern, die an die örtlichen Gegebenheiten angepasst sind. Partizipation und lokales Wissen bilden eine entscheidende Antwort auf das globale Hungerproblem, eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
7. Kultur
Gibt es auch kulturelle Grundnahrungsmittel?
Die Deutsche Oper in Berlin plante für den November 2006 die Wiederaufnahme einer Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Idomeneo», die drei Jahre vorher ihre Premiere erlebt hatte. Doch vor der erneuten Aufführung wurde eine Analyse der Berliner Sicherheitsbehörden bekannt, der zufolge Störungen des geplanten Opernabends nicht ausgeschlossen werden könnten. Als szenischer Abschluss waren nach den Anweisungen des Regisseurs Hans Neuenfels die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Jesus, Mohammed und Buddha auf der Bühne zu sehen. Daraus folgerten die Sicherheitsbehörden: Da nach islamischer Auffassung bereits die Abbildung des Propheten Mohammed untersagt sei und da der abgeschlagene Kopf des Propheten als indirekte Aufforderung zur Vernichtung des Islam verstanden werden könne, ließe sich nicht ausschließen, dass Muslime in der Inszenierung einen Angriff auf ihre Religion sähen.
Diese äußerst nervöse Reaktion ließ sich am ehesten vor dem Hintergrund der gewaltsamen Proteste erklären, die ein Jahr zuvor durch Karikaturen des Propheten Mohammed in der dänischen Zeitung «Jyllands-Posten» ausgelöst worden waren. In verschiedenen muslimischen Ländern war es zu vehementen Massendemonstrationen und gewaltsamen Angriffen auf Einrichtungen westlicher Länder gekommen, denen kollektiv eine Übereinstimmung mit der unterstellten Schmähung des Islam vorgeworfen wurde.
Die Absicht, auf die Wiederaufführung des «Idomeneo» zu verzichten, erregte empörten Widerspruch. Der Gedanke, dass die Freiheit der Kunst einer diffusen Terrorfurcht weichen müsse, galt als inakzeptabel. Mit einer Verzögerung von einem Monat wurde die Oper im Dezember2006 wieder aufgeführt. In der Zwischenzeit war es zu wechselseitigen Unterstellungen zwischen den politisch Verantwortlichen und dem Opernhaus gekommen; führende Akteure, aber auch die Sicherheitsbehörden waren für «verrückt» erklärt worden (Meyer 2011: 75ff.).
Kunst, so zeigt das Beispiel, ist keine Nebensache. Ob sie in Freiheit ausgeübt werden kann, ist ein Indikator dafür, wie es um die Freiheit überhaupt steht. Kunst – als Teil der Kultur – ist mehr als ein Sahnehäubchen, auf das man in harten Zeiten verzichten kann. Kunst – wie Kultur überhaupt – gehört zu den Grundnahrungsmitteln. Dass die Kunst immer wieder versucht, sich von überkommenen moralischen Gepflogenheiten loszureißen, bestätigt auf seine Weise die große Bedeutung von Kunst und Kultur. Der Mensch bringt nicht nur Kultur hervor, er ist ein Kulturwesen.
Zwar bezieht man den Begriff der Grundnahrungsmittel in der Regel nur auf die Hauptbestandteile der Ernährung des Menschen. Doch man weiß zugleich, dass kein Mensch von Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett allein leben kann. Er braucht genauso dringend Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen. Er braucht Sprache, Bewegung, Kleidung, Obdach. Er bewegt sich in einer symbolischen Welt, für die er seit den frühesten Stufen seiner Entwicklung Zeichen hinterlässt, so dass sich von Generation zu Generation ein kulturelles Gedächtnis bilden kann. Das menschliche Leben hängt von kulturellen Voraussetzungen genauso ab wie von natürlichen
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