Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Bedingungen.
Was ist Kultur?
Man kann eine Forstkultur anlegen oder landwirtschaftliche Kulturen bewerten; man kann sich aber auch an der Hochkultur freuen und auf eine Steigerung des städtischen Kulturetats hoffen. Der Begriff der Kultur hat, wie diese Beispiele zeigen, eine doppelte Bedeutung. Sprachlich geht er auf das lateinische Wort
cultura
zurück, das ursprünglich die Hege und Pflege des Ackerbodens bezeichnet. Doch schon der römische Rhetor Cicero verwandte das Wort auch in einem zweiten Sinn und sprach von der
cultura animi
, der Pflege des Geistes.
Über lange Zeit musste man deshalb, wenn man das Wort gebrauchte, angeben, worin jeweils das Objekt der Hege und Pflege bestand:Natur oder Geist. Man kann bisher unbebautes Land kultivieren oder ein kultiviertes Gespräch führen. Seit der Renaissance konzentrierte sich der Begriff der Kultur immer stärker auf die Pflege der geistigen Existenz. Dabei wird Kultur oft zu einem abgrenzenden Merkmal: Kulturvölker und Barbaren werden voneinander unterschieden.
Prägend bleibt für die Vorstellung von Kultur deren Entgegensetzung zur Natur. Das Urteil über die Kultur hängt dabei in hohem Maß davon ab, ob der ursprüngliche Naturzustand des Menschen als eine Situation der Vollkommenheit oder des Mangels beurteilt wird. Der alttestamentliche Mythos vom Paradies geht von einem anfänglichen Zustand der Vollkommenheit aus, den der Mensch im Sündenfall durch eigene Schuld einbüßt. Seitdem ist sein Leben zugleich von der Mühe bei der Bewältigung des täglichen Lebens und der Sehnsucht nach Erlösung bestimmt (1. Mose 3,1ff.). In Platons Mythos von Prometheus dagegen wird der Anfang der Menschheit als ein Zustand des Mangels geschildert (Platon, Protagoras 320c–322d). Der Mensch ist mit natürlichen Gütern schlechter ausgestattet als die anderen Lebewesen. Deshalb stiehlt Prometheus das Feuer des Hephaistos und die Weisheit der Athene; so verschafft er den Menschen die Künste des Schmiedens und des Webens. Zeus ergänzt dies noch um die Gaben der Scham und der politischen Tugend. Was man später «Kultur» nennen wird, dient also dem Ausgleich für die Mängel, mit denen das menschliche Leben von seinem Ursprung her behaftet ist. Dieser Ausgleich bezieht sich nicht nur auf die materiellen Lebensbedingungen; vielmehr schließt er die Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens in einer politischen Gemeinschaft ein.
Seit der Renaissance interpretierte man deshalb den Mangel, durch den das menschliche Leben von Natur aus gekennzeichnet ist, als eine besondere Chance – nämlich als die Möglichkeit, dass die Menschen ihrem Leben aus Freiheit eine eigene Gestalt geben können (Pico della Mirandola 1486). Der sich aus der Renaissance entwickelnden positiven Bewertung der Kultur setzte jedoch Jean Jacques Rousseau mit seinem «Zurück zur Natur» einen scharfen Widerspruch entgegen. Der Mensch ist, so Rousseau, nicht von Natur aus ein Mängelwesen, sondern wird durch die Kultur seinem Ursprung entfremdet. Dieser Verfallsgeschichte der Kultur widersprach unter den Aufklärungsphilosophen mit besonderem Nachdruck Immanuel Kant (Recki, Kultur 2001: 1825).
So entwickelte sich der Begriff der Kultur, der zunächst die Pflege des geistigen Lebens bezeichnete, zur Bestimmung einer umfassenden Lebensform weiter; erkennbar wird dieser Schritt bereits in der frühen Neuzeit bei Samuel Pufendorf, der dem Naturzustand des Menschen den Status der Kultur gegenüberstellte (Hirsch 1960: 80).
Häufig bildete die These von der Überlegenheit der Kultur über die Natur eine wichtige Antriebskraft für konzentrierte Bemühungen um kulturelle Produktivität. Nun wurde dem Menschen insgesamt eine kulturelle Existenz zugeschrieben (Schwemmer 1997), und diese wurde zugleich kollektiv gedeutet. Die Vorstellung von unterschiedlichen Nationalkulturen entwickelte sich. In diesem Sinn bezeichnete das 19. Jahrhundert die innere Entwicklung eines Volkes als Kulturgeschichte, die äußere dagegen als politische Geschichte (Meyer 1877: 436).
Dabei liegt eine Besonderheit der deutschen Begriffsentwicklung in der Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation. Sie prägte das nationale Bewusstsein bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein. Kultur wurde dabei dem Geistigen als Selbstzweck zugeordnet, während Zivilisation mit dem instrumentellen Charakter wissenschaftlich-technischen Fortschritts verbunden wurde. Diese Begrifflichkeit verband sich mit der Behauptung, der kulturbestimmte
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