Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
deutsche Geist sei dem Geist des Westens überlegen, der auf Zivilisation gerichtet sei, ja ein «Imperium der Zivilisation» repräsentiere (Mann 1918: 77; vgl. Winkler 2000: 340). Unterschwellig wirkt eine derartige sprachliche Entgegensetzung immer noch weiter – zum Beispiel, wenn Samuel Huntingtons Buch «The Clash of Civilizations» auf Deutsch unter dem Titel «Kampf der Kulturen» veröffentlicht wird (Huntington 2002).
In der allgemeinen internationalen Diskussion ist die Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation in den Hintergrund getreten. Der Begriff der Kultur wird heute auch im angelsächsischen Sprachraum mit größerer Selbstverständlichkeit verwendet als noch vor wenigen Jahrzehnten. In den Geisteswissenschaften hat sich ein
cultural turn
vollzogen, der alle symbolischen Formen und Vollzüge als Gegenstände kulturwissenschaftlicher Interpretation betrachtet.
Für diese Wendung ist die Einsicht des Philosophen Ernst Cassirer grundlegend, dass der Mensch sich mit Hilfe von Symbolen in seiner Welt orientiert und deshalb in einem «symbolischen und nicht mehr ineinem bloß natürlichen Universum» lebt. «Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, dass er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien.» (Cassirer 1960: 39; vgl. Hübner 2012: 346ff.) In der Vielfalt und dem Reichtum ihrer Symbolisierungen vermittelt Kultur das Material, das uns den Zugang zum Verstehen der Welt erschließt. Kultur ist das Symbol- und Deutungssystem, das unsere Wahrnehmungen steuert und zwischen individuellen Dispositionen und gesellschaftlicher Wirklichkeit vermittelt (Geertz 1987). Eben damit hängt es zusammen, dass an der Kultur einmal die individuelle Seite – jemand ist ein «kultivierter Mensch» – und ein andermal die kollektive Seite – die Frage nach der «Leitkultur» – hervortritt.
Die Unbestimmtheit, die das Wort Kultur kennzeichnet, lässt sich auch durch noch so angestrengte Definitionsbemühungen nicht überwinden. Jugendkultur oder Popkultur, Esskultur oder Begräbniskultur, Unternehmenskultur oder Diskussionskultur, Alltagskultur oder Hochkultur sind willkürlich herausgegriffene Beispiele für ein weit größeres Spektrum an Wortkombinationen. Aber von der Hege und Pflege des Geistes, die Cicero im Sinn hatte, bis zum symbolischen Universum, das Cassirer oder Geertz vor Augen steht, gibt es doch ein Kontinuum: Kultur gehört zum Menschsein, denn der Mensch ist ein kulturelles Wesen.
Kultur gibt es deshalb nur im Plural. Soweit Kultur sich mit dem einzelnen Menschen verbindet, ist diese Feststellung trivial: Kultur ist multi-individuell. Aber auch wenn man die kollektive Seite von Kultur betrachtet, ist die Mehrzahl von Kulturen eine Selbstverständlichkeit. Genau diese Mehrzahl hat immer wieder dazu verführt, Kultur aus der Abgrenzung heraus zu definieren. Am stärksten vollzog sich das in der Konkurrenz von Nationalkulturen und in der Gegenüberstellung von Volkskultur und Hochkultur. In der radikalen Pluralität, in der moderne Gesellschaften existieren, verstärkt sich die Notwendigkeit, das Nebeneinander verschiedener Kulturen nicht zu einem Kampf werden zu lassen, sondern den Frieden zwischen den Kulturen als Grundelement des politischen Friedens zu verstehen (vgl. Kapitel 16).
Die ethische Bedeutung der Kultur
Drei Verknüpfungen von Kultur und Ethik sind von besonderer Bedeutung. Die Kultur gehört zu den Quellen der Ethik; sie ist Gegenstand ethischer Verantwortung; Kulturkonflikte bedürfen der Befriedung.
Die Kultur gehört zu den Quellen der Ethik. Kultur bündelt in unterschiedlichen Formen die Erfahrungen von Generationen, sie bewahrt die Erinnerung an geschichtliche Schuld und neue Anfänge und sie verdichtet die Aporien und tragischen Verstrickungen des menschlichen Lebens. Auf vielfältige Weise schärft Kultur den Blick auf die Wirklichkeit; sie enthält ethische Orientierungen und kann zu ethischem Verhalten anregen.
Die Kultur ist Gegenstand ethischer Verantwortung. Sich als Person kulturell zu bilden, die kulturelle Gestalt der eigenen beruflichen und sozialen Umgebung zu pflegen und Bedingungen für die kulturelle Zukunft zu bewahren und zu entwickeln gehört zu den moralischen Pflichten, an denen jeder an seinem Ort und im Rahmen seiner
Weitere Kostenlose Bücher