Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
die einen mit den ihnen anvertrauten Talenten weiter wirtschaften durften, verlor der andere auch noch das eine Talent, das er hatte. Das Ganze mündet in die erstaunliche Aussage:«Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.» (Matthäus 25,29)
Aus diesem Gleichnis Jesu ist die Rede von den anvertrauten Pfunden, mit denen man wuchern soll, und von den Talenten, aus denen man etwas machen soll, in unsere Sprache übergegangen. So weit heute noch jemand als talentiert bezeichnet wird, denkt man allerdings in der Regel nur an überdurchschnittliche Begabungen. Dem biblischen Gleichnis dagegen liegt die Überzeugung zugrunde, dass jedem Gaben anvertraut werden, die er entfalten kann. Daraus lässt sich folgern: Jemanden zu fördern bedeutet, ihm dabei zu helfen, dass seine Gaben ans Licht kommen. Bildung soll Menschen dazu befähigen, Subjekt ihrer eigenen Lebensgeschichte zu werden, indem sie ihre Begabungen entfalten. Daran erinnert das Wort Talente.
Wer nicht nur Potenziale nutzen, sondern auch Talente fördern will, braucht ein umfassendes Bildungsverständnis. Zu ihm gehört, dass Bildung nicht nur Verfügungswissen, sondern auch Orientierungswissen vermittelt. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß unterscheidet diese beiden Arten des Wissens folgendermaßen: «Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (z.B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den ‹Sinn› des eigenen Lebens ausmachen).» (Mittelstraß 2002: 164) Ist Bildung vor allem an Nützlichkeit orientiert, bleibt das Orientierungswissen hinter dem Verfügungswissen zurück. «Der wissenschaftlich-technische Verstand ist stark, die praktische Vernunft schwach.» (Mittelstraß 2001: 75) Es kommt jedoch darauf an, dass das Orientierungswissen mit dem Verfügungswissen Schritt hält.
Ein umfassender Bildungsbegriff zeigt sich nicht nur darin, dass Bildung auf die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen bezogen wird. Er zeigt sich auch nicht nur darin, dass Körper, Seele und Geist in der Balance gehalten werden und Bildung deshalb nicht nur kognitive, sondern auch körperliche und emotionale Dimensionen hat. Zu ihm gehört auch, im Blick auf den menschlichen Geist nicht nur auf diejenigen Bildungsinhaltezu setzen, die jemand braucht, um auf gesellschaftliche Anforderungen von morgen vorbereitet zu sein. Vielmehr sind mit dem gleichen Gewicht diejenigen Bildungsinhalte zur Sprache zu bringen, die jemand braucht, um sich in seiner Welt orientieren und ethisch verantwortlich handeln zu können.
Bildung für alle!
Eine moderne Wirtschaftsgesellschaft ist auf ausreichend qualifizierte Menschen in allen Arbeits- und Lebensbereichen angewiesen. Es ist darum ein Gebot der ökonomischen Vernunft, kein Kind und keinen Jugendlichen verloren zu geben. Darüber hinaus eröffnet nur Bildung eine Zukunftsperspektive, die nicht an die soziale Ausgangslage des Einzelnen gekettet ist. Nur durch Bildung lassen sich schlechte Startbedingungen überwinden; nur auf diesem Weg lässt sich die für den Einzelnen mögliche Beteiligung am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben erreichen.
Das deutsche Bildungswesen genügt solchen Anforderungen nicht; in ihm bleiben zu viele Schülerinnen und Schüler auf der Strecke. Zwischen denen, die Bildungsangebote sinnvoll nutzen können, und denjenigen, bei denen sich Benachteiligungen häufen, besteht eine unvertretbar große Kluft (Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung 2010: 15. 197ff.). Dazu tragen eine frühe Auslese für weiterführende Schulen und eine hohe Abbrecherquote bei. Ein zu hoher Anteil eines Jahrgangs verlässt die Schule ohne Schulabschluss. Ein noch höherer Anteil bleibt ohne Ausbildung. Unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die einen beruflichen Ausbildungsplatz suchen, haben viele auch mehrere Jahre nach Verlassen der Schule noch keine Ausbildung begonnen (Beicht/Granato 2009: 18ff.). Viel zu viele Jugendliche bleiben ohne abgeschlossene Berufsausbildung.
Eine an der Gerechtigkeit orientierte Bildungspolitik muss sich diesen Herausforderungen stellen. Alle Schülerinnen und Schüler
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