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Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
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oder Talente?
    Der enge Zusammenhang von Gerechtigkeit und Bildung leuchtet unmittelbar ein, wenn Gerechtigkeit als Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten verstanden wird. Armut zeigt sich dann nicht nur in der mangelnden Befriedigung von Grundbedürfnissen, sondern ebenso am Fehlen der Möglichkeit zur Teilhabe. So wichtig die materielle Dimension von Armut ist, so unzureichend ist es doch, alle Überlegungen auf diese eine Dimension zu konzentrieren. Und so wichtig es ist, materiellen Notständen durch Maßnahmen der Verteilungsgerechtigkeit entgegenzuwirken, wäre die Annahme doch falsch, dass sich damit allein das Problem der Armut lösen ließe. Armut wird nicht allein durch Maßnahmen der Verteilungsgerechtigkeit überwunden; verweigerte Teilhabe lässt sich vielmehr nur durch Beteiligungsgerechtigkeit korrigieren. Diese wiederum setzt Befähigungsgerechtigkeit voraus. Sie bildet ein entscheidendes Kriterium für ein gerechtigkeitsorientiertes Bildungsverständnis, das auf die Entfaltung der in jedem Menschen liegenden Begabungen gerichtet ist und sich deshalb der gleichen Würde jedes Menschen verpflichtet weiß (vgl. Dabrock 2012: 164ff.).
    Statt von Befähigungen spricht die neuere bildungspolitische Debatte eher von «Potenzialen». So wie die Altersforschung dazu rät, die «Potenziale» des Alters zu erkennen, so fordert die Bildungsforschung dazu auf, die «Potenziale» der jungen Generation zu nutzen. Das ursprünglich in der Physik verwendete Wort Potenzial bezeichnet die Fähigkeit, eine Arbeit zu verrichten. In einem weiteren Sinn bezeichnet es die Gesamtstärke der für einen bestimmten Zweck einsetzbaren Mittel. Industriepotenzial und Kriegspotenzial nennen die Lexika als Beispiele dafür. Die Leistungsfähigkeit eines Wirtschaftszweigs wurde als «Potenzial» bezeichnet, bevor der Gedanke aufkam, die Leistungsfähigkeit eines Menschen so zu nennen. Wird der Begriff des Potenzials auf den Menschen angewandt, so richtet sich das Hauptinteresse auf dessen gesellschaftliche Nützlichkeit. Wird er in der Debatte über Bildung verwendet, so geht es vor allem umderen wirtschaftlichen Nutzen. Ein umfassendes Bildungsverständnis betont das Recht auf Bildung, das jedem Menschen kraft seiner Menschenwürde zukommt. Jeder Mensch ist mehr als nur ein Objekt von Bildungsbemühungen, die auf eine Steigerung gesellschaftlicher Nützlichkeit zielen. Er ist das Subjekt einer Bildungsgeschichte, die nicht nur einzelne Lebensphasen betrifft, sondern das ganze Leben umfasst. Bildung richtet sich deshalb nicht nur darauf, Potenziale zu heben, sondern Begabungen zur Entfaltung zu bringen. Sie befähigt zur gesellschaftlichen Teilhabe und wendet sich deshalb vorrangig denen zu, die auf dem Weg dorthin besonders hohe Hürden zu überwinden haben – sei es wegen gesundheitlicher Einschränkungen oder wegen mangelnder Förderung durch ihr familiäres Umfeld. Eine befähigungsorientierte Bildungspolitik zielt darauf, Menschen mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen gerecht zu werden; sie bildet einen Schlüssel zur erfolgreichen Integration gesellschaftlicher Minderheiten.
    Was neuerdings als Potenzial bezeichnet wird, trug zu anderen Zeiten den Namen Talent. Wo jetzt Potenziale genutzt werden sollen, wollte man früher Talente entwickeln. Die Frage, über welche Talente jemand verfügt, zielt auf die Gaben und Begabungen, die in ihm stecken und sich in seiner Lebensgeschichte entfalten sollen.
    Das Wort Talent hat sich in der deutschen Sprache durch eine biblische Geschichte eingebürgert. Ein Talent war in biblischer Zeit eine Maßeinheit für das Gewicht von Edelmetall. Ein Gleichnis Jesu handelt von einem Fürsten, der eine große Reise unternahm und zuvor seinen Mitarbeitern sein Vermögen zur Verwaltung anvertraute: dem einen fünf Talente, dem andern zwei, dem dritten eines. Die Reaktion der Mitarbeiter war höchst unterschiedlich. Der eine legte die Talente an und ließ sie arbeiten. So übergab er seinem Dienstherrn nach dessen Rückkehr statt fünf zehn Talente. Auch derjenige, der mit zwei Talenten angefangen hatte, brachte es bis zum Tag der Abrechnung auf vier. Der dritte reagierte ängstlich und vergrub das eine Talent, das er erhalten hatte, bis zur Rückkehr seines Fürsten. So konnte er auch am Ende nicht mehr vorweisen als dieses eine Talent. Während die beiden, die ihre Talente hatten arbeiten lassen, dafür belohnt wurden, traf den dritten das scharfe Urteil seines Herrn. Während

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