Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Schlechtergestellten akzeptiert werden können. Dafür ist ausschlaggebend, ob die höheren Freiheitsgrade derjenigen, die mehr Entfaltungsmöglichkeiten, mehr Glück, mehr Begabungen, mehr Leistungsbereitschaft ihr Eigen nennen, die Situation jener fördern, die sich am entgegengesetzten Ende der Skala befinden. Der Arbeitslose muss beispielsweise erkennen können, dass ein Unternehmer durch seinen herausgehobenen materiellen Status dazu motiviert wird, sein Unternehmen so erfolgreich zu führen, dass auch der Arbeitslose einen Arbeitsplatz finden kann.
Damit sind die beiden Prinzipien der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls bereits erläutert; sie seien nun zusammenfassend im Wortlaut zitiert: «1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.» (Rawls 1975: 81)
Für das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit lässt sich daraus eine provozierende Folgerung ableiten: Eine an der Gerechtigkeit als einem System gleicher Freiheiten ausgerichtete Gesellschaft ist auch für diejenigen, die schlechter gestellt sind, besser als eine Gesellschaft unterschiedsloser Egalität. Das gilt allerdings nur, wenn das Unterschiedsprinzip beachtet wird; deshalb müssen Differenzen vermieden werden, die für die Schlechtergestellten nachteilig sind.
Diese Gerechtigkeitskonzeption überwindet den scheinbaren Gegensatz von Freiheit und Gleichheit durch ein Prinzip dafür, wann gesellschaftlicheUnterschiede sich mit der Gerechtigkeit als «System gleicher Freiheiten» vertragen. Interessanterweise hat Rawls für diese Konzeption eine Kurzformel geprägt, die ein sportethisches Prinzip auf die Gesellschaft im Ganzen überträgt: «Gerechtigkeit als Fairness» (Rawls 2006).
Rawls formuliert in seinen beiden Gerechtigkeitsprinzipien die Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit; deshalb kann es für ihn Gerechtigkeit nur ganz oder gar nicht geben. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht es jedoch immer um mehr oder weniger Gerechtigkeit. Dieser Aspekt einer transformativen Gerechtigkeit tritt bei Rawls in den Hintergrund; denn sein Ansatz ist – durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gerechtigkeit – «transzendental» angelegt.
Auf konkrete Möglichkeiten einer schrittweisen Veränderung zielt dagegen eine andere Gerechtigkeitstheorie, die einige Jahrzehnte nach Rawls durch die Philosophin Martha C. Nussbaum und den Ökonomen Amartya Sen entwickelt wurde. Während es bei Rawls um ein System gleicher Freiheiten geht, kommt es bei Nussbaum und Sen auf die Entwicklung der Fähigkeit an, von der eigenen Freiheit einen sinnvollen Gebrauch zu machen. Auch Nussbaum und Sen gehen von der Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit aus. Dabei betrachten sie Gerechtigkeit als Bedingung für die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten
(capabilities)
. Gesellschaftliche Entwicklungen sind daran zu messen, ob das Leben der Gesellschaftsglieder umfassend geschützt wird und ob sie Chancen dazu erhalten, ihr Leben unter gesundheitsförderlichen Bedingungen zu führen, aus ihren Begabungen etwas zu machen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Zu den dafür erforderlichen Bedingungen gehören vielfältige Befähigungen, die von Leben und körperlicher Integrität über die Freiheit des Denkens und der Religion, über Gemeinschaftsformen, in denen sich Emotionen und praktische Vernunft entwickeln können, bis zur Nichtdiskriminierung und zur Fähigkeit, für die eigene Lebenswelt Verantwortung zu übernehmen, reichen (Nussbaum 2010: 430ff.). Jede Liste solcher
capabilities
ist für Erweiterungen offen, und nicht jeder Gerechtigkeitsfortschritt kommt allen Befähigungen in gleichem Maß zugute. Der
capabilities approach
ist nicht transzendental, sondern pragmatisch angelegt.
Für die Förderung der menschlichen Befähigungen sind besonders zwei Faktoren wichtig:
care
in dem an früherer Stelle definierten umfassenden Sinn (siehe oben S. 36f.) und Bildung. Hier wenden wir uns vorallem dem zweiten Aspekt zu: Gerechtigkeit und damit auch die Überwindung von Armut hängen entscheidend von zureichenden Bildungsangeboten und gelingenden Bildungsprozessen ab.
Bildungsförderung: Potenziale
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