Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
der Verantwortung ins Zentrum seiner ethischen Überlegungen. Er orientierte sich dafür konsequent an dem relationalen Menschenbild der Reformation. Nicht der Mensch als Macher oder als Bürger, sondern der Mensch als Antwortender steht im Zentrum seiner Überlegungen (Niebuhr 1978: 56). Auf dieser Grundlage werden zwei Dimensionen der Verantwortung voneinander unterschieden, die sich als «Verantwortung vor …» und als «Verantwortung für …» bezeichnen lassen.
Dabei meint «Verantwortung für …» nicht nur die Bereitschaft zur Fürsorge für andere, sondern ebenso die Bereitschaft zur Vorsorge für die Zukunft des gemeinsamen Lebens, denn es gehört zu den besonderen Fähigkeiten des Menschen, künftige Entwicklungen in Betracht zu ziehen und unter ihnen zu wählen. Auch im Blick auf die Zukunft handelt der Einzelne im Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur ihn umgebenden Welt. Verantwortung zeigt sich als Individualverantwortung, Sozialverantwortung und Umweltverantwortung.
Die «Verantwortung vor …» verweist auf einen Horizont letzter Rechenschaftspflicht, durch den menschliches Leben überhaupt erst als ein verantwortliches verstanden wird. Als Instanz für diese Rechenschaftspflicht wird entweder ein
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, nämlich das Gewissen des Einzelnen, oder ein
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, nämlich Gott, angesehen. Erneut geht es darum, ob ein Mensch die Relationalität seines Lebens im Entscheidenden als Selbstbezüglichkeit oder als Bezogenheit auf ein Anderes seiner selbst versteht.
Die Menschenrechte als Orientierungsrahmen
Die Entwicklung ethischer Weltbilder in der Neuzeit lässt sich als ein Prozess zunehmender Inklusion verstehen. Mit der Eroberung des amerikanischen Kontinents stellte sich die Frage, ob die nach Sprache und Religion völlig unvertrauten Bewohner von ihren neuen Herren als Menschen anzuerkennen seien. Die anthropologische Wende der Renaissance, das relationale Menschenbild der Reformation und die universalistische Völkerrechtslehre katholischer Gelehrter konvergierten in einem Menschenbild, nach dem jeder, der ein Menschenantlitz trägt, auch amMenschsein teilhat. Geraume Zeit später fand dieser Gedanke in den amerikanischen und französischen Menschenrechtskodifikationen des späten 18. Jahrhunderts einen verbindlichen Ausdruck. Doch noch immer blieb ein langer Weg zu gehen. Thomas Jefferson beispielsweise, ein Vorkämpfer des Menschenrechtsgedankens, vertrat zwar die Ansicht, dass «alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück» (Lerg 2010: 49f.); dennoch nahm er für seine persönliche Lebensführung den Dienst von Sklaven in Anspruch.
Sklaverei, Rassismus und Sexismus bildeten die drei epochalen Herausforderungen für die universale Durchsetzung der Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschen. Die Überwindung der Leibeigenschaft, der Abbau von Diskriminierung aus Gründen der Gruppenzugehörigkeit und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen waren die großen Weichenstellungen zu einem universalen Verständnis menschlicher Würde. Die Gewaltverbrechen von Hitler-Deutschland gegen das europäische Judentum und andere Gruppen, die stalinistische Vernichtung politischer Gegner, die Apartheid-Politik in Südafrika und die «ethnischen Säuberungen» im zerfallenden Jugoslawien offenbarten auf grauenvolle Weise, dass es trotz der grundsätzlichen Einsicht in den universalen Charakter der Menschenwürde immer wieder zu barbarischen Rückfällen kommen kann. Das Menschenrechtsbewusstsein ist kein sicherer Besitz; um die Anerkennung der gleichen Würde jedes Menschen wird in jeder Generation neu gerungen.
Die tyrannischen Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts, vor allem im Nationalsozialismus und im Stalinismus, gaben den Anstoß zur Anerkennung der Menschenrechte auf der Ebene der Völkergemeinschaft. Auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 folgte ein Prozess der rechtlichen Kodifizierung, insbesondere in den beiden Menschenrechtspakten von 1966 sowie in einer Reihe spezieller Menschenrechtskonventionen, beispielsweise zu den Rechten von Frauen, von Kindern oder von Menschen mit Behinderungen. Auf europäischer Ebene traten ihnen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 zur Seite. Der
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