Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Denn die Möglichkeit, einander seine Gedanken mitzuteilen, ist eine unerlässliche Bedingung dafür, dass man die Richtigkeit dieser Gedanken kritisch prüfen kann (Kant 1786: A326; vgl. Arendt 1987: 52f.).
9. Verantwortung
Wie wird man ein Weltbürger?
Einer meiner Patensöhne hat seine Schulzeit nach vielen Jahren in Deutschland mit dem Abitur in Singapur abgeschlossen. Inzwischen ist er mit einer Spanierin verheiratet, hat einige Jahre in den USA gelebt und ist dann mit ihr und den beiden Töchtern nach Singapur zurückgekehrt. Die Familie ist dreisprachig und fühlt sich in drei Kontinenten zu Hause.
Ein anderer Patensohn stammt aus einer deutsch-amerikanischen Familie. Sein sehnlicher Wunsch, ein Schuljahr in den USA zu verbringen, wurde ihm erfüllt; da die Familie sich aber intensiv mit den wachsenden Gegensätzen in der Einen Welt beschäftigt, interessiert er sich auch für Afrika. Er hat mit seinen Eltern einige Monate in Südafrika gelebt; die ganze Familie engagiert sich in einem Hilfsprojekt für Schülerinnen und Schüler in Ruanda.
Aufwachsen in einer vernetzten Welt
Auch wenn diese Beispiele ungewöhnlich sind, zeigen sie Chancen für Heranwachsende, ihr Blickfeld zu weiten. Die Zahl zweisprachiger Kindergärten und Schulen nimmt zu. Die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen beginnt für viele auf den Treppen der Wohnhäuser und Geschäfte, auf Hinterhöfen, Spielplätzen und in Kindertagesstätten. Dass die Menschheit durch ein weltweites Netz – ein
worldwide web
– miteinander verbunden ist, erfahren sie bereits bei den ersten Versuchen, mit dem Computer umzugehen.
Auch mit den großen globalen Herausforderungen sehen sich Kinder und Jugendliche heute konfrontiert. Sie werden in einen globalen Horizonthineingeboren. Die Weltbevölkerung und die Welternährung, die Weltwirtschaft und das Internet, der Klimawandel und der internationale Terrorismus sind ihnen als Themen vertraut. Dass ihre eigene Lebensperspektive durch die Entwicklung der Einen Welt beeinflusst wird, ist für die meisten klar.
Die 16. Shell-Jugendstudie hat nach der Einstellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren zum Klimawandel gefragt (Albert u.a. 2010: 177ff.). Der größte Teil der Befragten vertritt eine ökologisch motivierte, kritische Haltung. Die meisten Jugendlichen halten ein bewusstes Umsteuern für notwendig und erklären sich zu Konsequenzen im Energiekonsum und im Mobilitätsverhalten bereit. Doch selbstverständlich und unangefochten sind solche Auffassungen nicht. Technologisch und medial der einen Welt anzugehören, bedeutet nicht zwangsläufig, sich ethisch als Weltbürger zu verstehen. In neuen Formen von Nationalismus und Rassismus zeigt sich vielmehr die Weigerung, den Horizont der eigenen Verantwortung über den unmittelbaren Lebensbereich oder die eigene Nation hinaus auszudehnen.
Ein weltbürgerliches Ethos ist keineswegs selbstverständlich; das Verhältnis zwischen «Nächstenethik» und «Fernstenethik» ist ein kontroverses Thema der Ethik. Es schließt drei vorrangige Teilfragen ein: Zunächst ist zu klären, was wir unter Verantwortung verstehen; sodann ist zu prüfen, ob es einen verbindlichen ethischen Maßstab gibt, durch den die Menschheit im Ganzen zum Bezugsrahmen persönlicher Verantwortung wird. Wird dies bejaht, ist schließlich zu erörtern, ob und wie man solche Verantwortung lernen kann.
Was heißt Verantwortung?
In der neuzeitlichen Moralphilosophie wurde der Begriff der Verantwortung über lange Zeit mit dem Problem des freien Willens verbunden. Im Zentrum steht die Frage, welche Handlungen einer Person zugerechnet werden können, denn nur für diese kann sie zur Verantwortung gezogen werden. Der ethische Begriff der Verantwortung wurde in Analogie zum rechtlichen – genauer: zum strafrechtlichen – Verantwortungsbegriff konstruiert (vgl. Huber, Freiheit 2012: 73ff.).
Doch es reicht nicht aus, nach der Verantwortung zu fragen, die jemand hat, weil ihm Handlungen zugerechnet werden. Man muss auch nach der Verantwortung fragen, die jemandem zukommt, weil ihm eine bestimmte Zuständigkeit übertragen ist. Bei herausgehobenen Aufgaben wird diese Verantwortung durch einen Amtseid ausdrücklich unterstrichen. Doch in besonderen Konstellationen entsteht eine Verantwortung, die über die jeweilige Zuständigkeit hinausweist.
In der Regel bezieht eine solche Verantwortung ihre Evidenz aus der Begegnung mit anderen Menschen. Der
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