Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Ausnahme in der einen oder anderen Richtung unvermeidlich macht. Die Ethik kennt dafür berühmte Beispiele: den Ehemann, der ein für seine Frau lebensrettendes Medikament nicht bezahlen kann und vor der Frage steht, es zu stehlen, da der Apotheker es nicht zu einem niedrigeren Preis herausgeben will (Lawrence Kohlberg), oder den Mann, der einem von einem Mörder bedrohten Freund Zuflucht gewährt und entscheiden muss, ob er dem Verfolger auf dessen Frage die wahrheitsgemäße Auskunft gibt (Immanuel Kant). Auch der Konflikt des Kriegsdienstverweigerers entsteht daraus, dass zwei Prinzipien gegeneinander stehen: eine allgemeine Rechtspflicht und eine persönliche Gewissenspflicht. In diesem Fall eröffnet die Rechtsordnung einen gewissensschonenden Ausweg, nämlich die individuelle Befreiung von einer für alle geltenden Pflicht (Art. 4, 3 GG: «Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.»).
Um vergleichbare Konflikte kann es aber auch in der Wahrnehmung eines politischen Mandats gehen. Ausdrücklich hebt das Grundgesetz deshalb hervor, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestags «Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen» sind (Art. 38, 1 GG). Erst recht steht beim Widerstandsrecht die Gewissensfreiheit auf dem Spiel. Die deutsche Verfassung erkennt ein Recht auf Widerstand gegen jeden an, der die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen will (Art. 20, 4 GG). Doch neben diesen «großen» Widerstand, in dem um der verfassungsmäßigen Ordnung willen und zur Rettung von Menschenleben eine illegitime Herrschaft beendet werden soll, tritt der «kleine» Widerstand des bürgerlichen Ungehorsams. Bei ihm werden aus gewissensbestimmter Überzeugunggezielt und öffentlich symbolische Regelverletzungen unternommen, um auf eine Änderung konkreter politischer Entscheidungen zu drängen (Reuter 2013: 274f.). Dabei darf es sich nur um solche Regelverstöße handeln, durch die niemand zu Schaden kommt. Das hebt die Rechtswidrigkeit eines solchen Regelverstoßes nicht auf. Ethisch kommt er deshalb nur für den Ausnahmefall in Frage. Es muss sich um ein Thema von großem Gewicht handeln, auf das zuvor schon auf andere Weise aufmerksam gemacht wurde. Die Gewissensgründe, deretwegen diese Protestform gewählt wird, müssen für viele Menschen einleuchtend sein. Das alles vorausgesetzt, ist im bürgerlichen Ungehorsam eine legitime Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit zu sehen. Die Bereitschaft, ihn anzuerkennen, kann als eines der Merkmale einer reifen Demokratie gelten (Huber, Gerechtigkeit 2006: 490ff.).
Neben der Glaubens- und Religionsfreiheit wird auch die Meinungsfreiheit in den unmittelbaren Zusammenhang der Gewissensfreiheit gerückt (Art. 5 GG). In dem starken Schutz, mit dem sie umgeben ist, spiegeln sich Erfahrungen in der dunkelsten Periode der deutschen Geschichte, in der das freie Wort immer mehr auf kleine Minderheiten beschränkt wurde und auch von ihnen nur noch im Verborgenen geäußert werden konnte. «Wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt», sagte Dietrich Bonhoeffer, der Theologe und Märtyrer im deutschen Widerstand, über sich und seine Freunde schon Ende 1942 und schloss die Frage an: «Sind wir noch brauchbar?» (Bonhoeffer 1998: 38)
Wer in einem demokratischen Rechtsstaat lebt, muss sich nicht mehr in den «Künsten der Verstellung» üben. Aber auch er steht vor der Frage: «Sind wir noch brauchbar?» In einer Mediengesellschaft sind es neue Gründe, die ein mutiges Wort bisweilen als waghalsig erscheinen lassen. Wer unbequeme Meinungen vertritt, muss zwar nicht politische Verfolgung, aber unter Umständen berufliche Nachteile oder öffentlichen Druck befürchten. Die Freiheit des Gewissens ist unter der Herrschaft der Ökonomie, der Definitionsmacht der Medien und der Allgegenwart digitaler Netze auf neuartige Weise gefährdet. Sie muss deshalb auch mit neuem Nachdruck verteidigt werden. Das gilt erst recht, wenn man über die Grenzen des eigenen Landes hinausschaut und wahrnimmt, welchen Pressionen die Freiheit des Gewissens in anderen Regionen der Erde ausgesetzt ist.
Die Meinungsfreiheit setzt eine funktionierende Öffentlichkeit voraus. Das hatte schon Immanuel Kant vor Augen, als er darauf hinwies, «daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken» nimmt.
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