Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
französische Philosoph Emmanuel Levinas erläutert das am Antlitz des Anderen (vgl. Levinas 1992; Levinas 1995; Dabrock u.a. 2004: 133ff.). Indem ich das Antlitz eines anderen Menschen sehe und mich seinem Blick aussetze, scheint in mir die Verantwortung auf, die mit der Existenz des Anderen gegeben ist. Die Verantwortungsbeziehung zu ihm ist an die Leiblichkeit gebunden, in der Menschen einander begegnen. Zum Anderssein des Anderen gehört seine Einmaligkeit und damit seine Freiheit gegenüber jedem Versuch, ihn in Kategorien einzuordnen.
So faszinierend der Ansatz bei dem Ruf, der von der Existenz des anderen ausgeht, auch ist, so lässt sich Verantwortung doch nicht auf unmittelbare personale Beziehungen beschränken. Der aus Deutschland stammende und nach seiner Emigration in den USA lehrende Philosoph Hans Jonas hat die notwendige Ausweitung des Konzepts der Verantwortung mit den Fortschritten der modernen Technik begründet. Sie hat die Menschen mit einem Zuwachs an Macht versehen, der hinsichtlich seiner möglichen Folgen zutiefst doppelgesichtig ist. Aus ihm ergeben sich neue Möglichkeiten zur Erhaltung und Entfaltung menschlichen Lebens, aber auch zu dessen Vernichtung. Die moderne Technik umfasst die Fähigkeit zur kollektiven nuklearen Selbstzerstörung wie auch zur technologischen Selbstmanipulation der menschlichen Spezies. In der Kernspaltung und der Entschlüsselung des genetischen Codes hat die Menschheit sich zuvor unbekannte Verfügungsmöglichkeiten über ihre eigene Zukunft angeeignet. Deshalb bildet die Verantwortung für die Zukunft des menschlichen Lebens auf der Erde für jeden Menschen einen grundlegenden moralischen Imperativ (Jonas 1979: 36).
Doch wer vermag Subjekt einer solchen Zukunftsverantwortung zu sein (Picht 1969: 318ff.)? Die Dringlichkeit dieser Frage lässt sich am Beispiel des Klimawandels verdeutlichen. Wenn Maßnahmen zur Begrenzungdes globalen Temperaturanstiegs wirksam sein sollen, genügt es nicht, dass Individuen, Gruppen oder Nationalstaaten solche Maßnahmen ergreifen; nötig ist vielmehr, dass die Staatengemeinschaft sich auf eine schnelle Reduzierung der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen verständigt. Doch Erwartungen an die politischen Akteure allein reichen nicht aus; vielmehr müssen Gruppen der Zivilgesellschaft sich zu Anwälten einer nachhaltigen Entwicklung machen und dabei selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Globale Verantwortung erfordert eine wirksame Kooperation der Staaten und starke zivilgesellschaftliche Vernetzungen über die Grenzen von Nationen und Kontinenten hinweg. Auch die internationale und ökumenische Zusammenarbeit der christlichen Kirchen hat hierin eine wichtige Aufgabe; zu wünschen ist darüber hinaus, dass die Weltreligionen in Fragen, die für die Zukunft der Menschheit von zentraler Bedeutung sind, verstärkt zusammenwirken.
Verantwortung im Sinn von Rechenschaftspflicht bildet von Anfang an ein Thema der christlichen Theologie, denn sie versteht den Menschen – der als Gottes Ebenbild geschaffen ist (vgl. 1. Mose 1,27) – als antwortendes Wesen. Er ist der Gott entsprechende, aber zugleich auch widersprechende Mensch. Zu seiner Freiheit gehört, dass er über sein Leben Rechenschaft abzulegen hat. Dafür steht das göttliche Gericht am Ende der Zeit (vgl. Matthäus 25,31ff.). Es ist nicht nur eine Zukunftsvision, sondern ragt schon in die jeweilige Gegenwart hinein. Jeder Mensch kann wissen, dass er über sein Leben rechenschaftspflichtig ist und auf die Kraft zum Neuanfang angewiesen bleibt, die in der Sprache des christlichen Glaubens Vergebung und Gnade heißt.
Lange Zeit wurde für diesen Zusammenhang nicht der Begriff der Verantwortung verwendet. Er wurde erst aufgegriffen, nachdem der Soziologe Max Weber Ende des Ersten Weltkriegs Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gegenübergestellt hatte (Weber 1994: 79). In der Theologie sprach Dietrich Bonhoeffer als erster programmatisch von einer Ethik der Verantwortung; das geschah in der Zeit seiner Beteiligung an der politischen Verschwörung gegen die NS-Diktatur. Verantwortung verstand er als eine durch den Vollzug des eigenen Lebens gegebene Antwort auf die Anrede des Menschen durch Gott (Bonhoeffer 1992: 253ff.). Die Struktur des verantwortlichen Lebens sah er durch den Zusammenklang von Freiheit und Bindung, von Selbsttranszendenz und Lebensvollzug geprägt.
In vergleichbarer Weise rückte der amerikanische Theologe H. Richard Niebuhr das «große moderne Symbol»
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