Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Begründungen voraus. Die am Menschenrechtsdiskurs Beteiligten bringen die ihnen selbst wichtigen Begründungen ein, um sie mit anderen Begründungen zu vergleichen.
Die Haltung des Weltbürgertums
Allen Begründungen, die für die Menschenrechte vorgebracht werden, ist gemeinsam, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde sich mit dem Gleichheitsgrundsatz verbindet. Doch so plausibel das auch erscheint,so sehr ist eine Überforderung zu befürchten, wenn man die universale Menschenwürde zum Maßstab individueller Verantwortung macht. Der Einzelne kann zwar die gleiche Würde aller Menschen – auch der Glieder künftiger Generationen – im Grundsatz anerkennen, er kann sich aber nur schwer im persönlichen Verhalten daran orientieren. Die «Fernstenethik», so heißt der Einwand, taugt nicht für die ethische Orientierung des Einzelnen. Eine solche Ethik verleitet eher zu resignativer Zurückhaltung. Aktives Handeln dagegen hat es, um nochmals an Emmanuel Levinas zu erinnern, mit dem Antlitz des Anderen, also mit konkreten menschlichen Schicksalen zu tun.
Doch das Angesicht des Anderen nötigt zugleich zu der Einsicht, die Kwame Anthony Appiah in den schlichten Satz gefasst hat: «Everybody matters.» (Appiah 2007: 174) Auch angesichts des konkreten Nächsten ist es unmöglich, Menschen, auf die es ankommt, von Anderen zu unterscheiden, auf die es nicht ankommt. In einer Haltung des Weltbürgertums ist nicht vorausgesetzt, dass der Einzelne jedem Glied der Menschheit dieselben Gefühle entgegenbringt wie seinen Nächsten oder seinen Nachbarn. Vorausgesetzt ist jedoch die Einsicht, dass kein Mensch gleichgültig ist. Gerade in seiner Verschiedenheit wird der andere als gleich geachtet. Universalität und Differenz sind deshalb die beiden entscheidenden Kennzeichen für eine Haltung des Weltbürgertums (Appiah 2007: 182).
Schon die griechischen Philosophen entwickelten ein klares Bewusstsein dafür, dass der Einzelne nicht nur Bürger seines jeweiligen politischen Gemeinwesens, also seiner
polis
, ist, sondern dass alle Menschen die Erde gemeinsam bewohnen. Die stoische Philosophie stellte deshalb der Beheimatung des Einzelnen in seiner Polis seine Zugehörigkeit zur gesamten Menschheit zur Seite (vgl. Coulmas 1990). Aus diesem philosophischen Ansatz des Kosmopolitismus entsteht die Vorstellung einer weltbürgerlichen Haltung als Teil des individuellen Ethos. In der neuzeitlichen Entwicklung findet eine solche Haltung vor allem in einem über die eigene Nation hinausgehenden Bildungsinteresse seinen Ausdruck. Sie wirkt sich aber auch in der Bereitschaft aus, bisher ausgeschlossene Personengruppen gleichberechtigt in die Gesellschaft zu integrieren.
Jeden einzelnen Menschen wichtig zu nehmen, kann nicht bedeuten, sich von allen Menschheitsproblemen gleichzeitig anrühren zu lassen. Nichtnur Einzelpersonen, sondern auch menschliche Gemeinschaften – seien es zivilgesellschaftliche Organisationen oder Staaten – können nicht auf alle Herausforderungen einer Zeit zugleich reagieren. Im individuellen wie im kollektiven Handeln müssen vielmehr Prioritäten gesetzt werden. Doch wenn man sich an den Menschenrechten orientiert, darf die vorrangige Aufmerksamkeit, die man bestimmten Personengruppen oder Problemkonstellationen schenkt, nicht durch bloßes Eigeninteresse oder durch gruppenbezogene Vorurteile bestimmt sein. Die besondere Verantwortung für konkrete Einzelpersonen und für bestimmte Gruppen muss sich vielmehr mit dem Respekt vor den gleichen Rechten aller verbinden. Soziale Verantwortung im Nahbereich der eigenen Familie oder des jeweiligen Berufsfelds sollte deshalb auf die eine oder andere Weise für ein weltbürgerliches Engagement offen sein. Der Einsatz in kirchlichen Partnerschaften über Grenzen hinweg, das Eintreten für die Menschenrechte politischer Gefangener bei Amnesty International oder die Beteiligung an politischen Initiativen für eine nachhaltige Entwicklung sind Beispiele dafür. Weltoffenheit ist ein grundlegendes Kennzeichen von Verantwortung (Gerhardt 2012: 515ff.).
Die Auswirkungen unseres Handelns reichen weiter, als wir uns in der Regel bewusst machen. Der Kauf von Lebensmitteln und Kleidungsstücken verbindet Konsumenten in Europa mit Produzenten in Ländern der Dritten Welt; in den Preisen für diese Waren schlagen sich auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihren Herkunftsländern nieder. Heutige Entscheidungen über die Nutzung nicht erneuerbarer Energien oder Co 2
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