Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Grundrechtskatalog des deutschen Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 beginnt mit der Anerkennung der unantastbarenMenschenwürde und nimmt alle in ihm verbürgten Menschen- und Bürgerrechte in ihrem Wesensgehalt ausdrücklich von Verfassungsänderungen aus (sog. «Ewigkeitsgarantie» des Art. 19,2 des Grundgesetzes).
Die Menschenrechte binden in allererster Linie die staatliche Gewalt; sie haben aber auch für das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger orientierende Bedeutung. Das wird besonders klar in der Präambel der schweizerischen Verfassung von 1999 ausgedrückt, in der es heißt: «… im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen …». Der Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen verpflichtet, wie diese Präambel zeigt, zur besonderen Aufmerksamkeit für Benachteiligte und an den Rand Gedrängte.
Der Ost-West-Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg trug zu einem Nebeneinander von zwei Menschenrechtspakten bei, von denen der eine die bürgerlichen und politischen Rechte umfasst, während der andere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte zum Inhalt hat. Diese beiden Menschenrechtskataloge wurden häufig mit einer Unterscheidung zwischen «individuellen» und «kollektiven» Rechten gleichgesetzt. Diese Charakterisierung führt jedoch in die Irre, denn auch im Fall sozialer oder kultureller Rechte ist die individuelle Person als Trägerin dieser Rechte anzusehen. Die beiden Gruppen der bürgerlichen und politischen Rechte einerseits, der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte andererseits sind durch eine Grundfigur der Menschenrechte miteinander verbunden, die durch die Zusammengehörigkeit von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe geprägt ist (vgl. Huber/Tödt 1988: 80ff.; Huber, Gerechtigkeit 2006: 308ff.).
Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen von Menschenrechten lässt sich am ehesten dadurch begründen, dass für sie unterschiedliche Formen des Rechtsschutzes zur Verfügung stehen. Grundrechte sind dann am ehesten einklagbar, wenn sie ungerechtfertigte staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheit abwehren; Grundrechte, aus denen Ansprüche auf gesellschaftliche Teilhabe und Gleichheit abgeleitet werden, bedürfen dagegen der politischen Umsetzung, ohne in gleicher Weise gerichtlich durchsetzbar zu sein.
Die Verbindlichkeit der Menschenrechte wird auf den Gedanken der Menschenwürde zurückgeführt. Er besagt nach einer berühmten FormulierungImmanuel Kants, dass der Mensch niemals bloß als Mittel zu fremden Zwecken angesehen werden darf, sondern stets als Zweck in sich selbst zu betrachten ist (Kant 1785/1786: BA64ff.). In der deutschen verfassungsrechtlichen Tradition ist daraus die «Objektformel» abgeleitet worden, nach der es mit der Menschenwürde unvereinbar ist, wenn ein Mensch zum Objekt der Verfügungsansprüche anderer Menschen wird. Hans Joas hat die Anerkennung einer solchen unantastbaren Würde des Menschen aus der Anerkennung der «Sakralität» der Person erklärt, die in den amerikanischen und französischen Rechteerklärungen des späten 18. Jahrhunderts zum ersten Mal einen markanten Ausdruck finde (Joas 2011). Die politische Anerkennung einer unantastbaren Würde jedes Menschen entsteht aus der geschichtlichen Erfahrung verweigerter Rechte. Doch sie stützt sich zugleich auf vernunftgeleitete Begründungen für die gleiche Freiheit jedes Einzelnen. Die Konfrontation mit Taten eines «Naturunrechts» verbindet sich in der Entstehung der Menschenrechte mit dem Nachdenken über den Menschen als das Wesen, das seinen Zweck in sich selbst trägt.
Aus der Verankerung in konkret erlittener Rechtsverweigerung gewinnt der Begriff der Menschenwürde ebenso seine Plausibilität wie aus philosophischem und theologischem Nachdenken. Bei diesem Nachdenken werden unterschiedliche Traditionen fruchtbar gemacht – so die jüdische und christliche Tradition mit ihrer Herleitung der Menschenwürde aus der antwortenden Entsprechung des Menschen zu Gott (der «Gottebenbildlichkeit» des Menschen) oder die Aufklärungstradition mit ihrem Verweis auf die mit der Vernunftnatur des Menschen gegebene Autonomie. Die Pluralität dieser Argumentationen ist von erheblicher Bedeutung, denn der Konsens über die Unantastbarkeit der Menschenwürde setzt den Respekt vor unterschiedlichen
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