Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
handeln. Sie berücksichtigen die strukturellen Gegebenheiten, orientieren sich aber zugleich an Regeln, die sich nicht aus dem Wirtschaftssystem als solchem ergeben. Zu ihnen gehören rechtliche Vorgaben des politischen Systems, Unternehmensziele und Unternehmenskultur, Vereinbarungen der betreffenden Branche, kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Konventionen sowie schließlich persönliche Haltungen und Überzeugungen.
Dieses Geflecht lässt sich nicht auf Systemimperative reduzieren. Vielmehr müssen sich wirtschaftsethische Überlegungen auf vier Ebenen zugleich beziehen: die politische Ebene, die Ebene der Unternehmen oder anderer Organisationen, die Ebene gesellschaftlicher Mentalitäten und soziokultureller Orientierungen sowie schließlich die Ebene des Einzelnen (vgl. Huber 2010 sowie – mit der Unterscheidung zwischen Makro-, Meso- und Mikro-Ebene – Ulrich 2008). Reines Systemdenken wäre nicht dagegen gefeit, die Beteiligung an groben Verstößen gegen geltende Gesetze und Richtlinien – sogenannte
compliance
-Verstöße –mit dem Argument des wirtschaftlichen Vorteils zu rechtfertigen; das Problem des
moral hazard
wäre dadurch gerade nicht gelöst. Auch noch so ausgefeilte politische Rahmenbedingungen entbinden den Einzelnen nicht von der Frage, wann für ihn die Grenze verantwortbaren Handelns überschritten ist. Die Forderung nach politischen Maßnahmen und nach Konsequenzen in den Unternehmen darf gerade nicht gegen die Verantwortung der Einzelnen und eine Klärung des gesellschaftlichen Paradigmas ausgespielt werden. Der Zusammenhang zwischen diesen vier Ebenen ist geradezu der Schlüssel für eine wirtschaftsethische Neuorientierung.
Ein solches Umdenken ist nur dann vorstellbar, wenn man auch in der Komplexität der modernen Welt mit Entscheidungsspielräumen rechnet, für die normative oder evaluative Orientierungen bedeutsam sein können. Auch innerhalb von langfristig wirksamen, unumkehrbar erscheinenden Trends wie der Globalisierung oder der demographischen Entwicklung in Wohlstandsländern lassen sich Korridore persönlicher wie institutioneller Entscheidungen offen halten. Wer innerhalb solcher Korridore bestimmte Handlungsweisen wählen und dafür Gründe namhaft machen will, braucht dafür Maßstäbe des Gerechten und des Guten, also normative und evaluative Orientierungen.
Eine Wertordnung wirtschaftlichen Handelns
In der globalisierten Wirtschaft zeigt sich die Pluralität der Wertorientierungen besonders intensiv. Wer in ihr bestehen will, braucht Klarheit über die eigene Wertebasis. Auf der Grundlage eigener Überzeugungen kann er mit anderen einen übergreifenden Konsens entwickeln, der gemeinsames Handeln ermöglicht (vgl. Rawls 1992: 293ff.; siehe oben S. 16).
Der indische Nationalökonom Amartya Sen sieht einen möglichen wirtschaftsethischen Konsens in einer «Ökonomie für den Menschen» (Sen 2000). Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung dient nach seiner Auffassung der Überwindung von Armut und fördert faire Entwicklungschancen. Wenn man wie Amartya Sen Armut als einen Mangel an Teilhabe- und Verwirklichungschancen versteht, ist es folgerichtig, die Behebung der Armut nicht von einer Entwicklungsdiktatur zu erhoffen,sondern auf eine Verbreiterung der Verwirklichungschancen durch Bildung, Beteiligungsgerechtigkeit und eine aktive Wirtschaftsund Sozialpolitik zu setzen (vgl. Kapitel 6 und 11).
Was kann christliche Ethik zu einem solchen übergreifenden Konsens beitragen? Auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Überlieferung bringt sie in eine «Ökonomie für den Menschen» vor allem vier kulturelle Grundüberzeugungen ein: die Verpflichtung auf die gleiche Würde jedes Menschen, die Verantwortung für die Lebensbedingungen künftiger Generationen, die Haltung des «Habens, als hätte man nicht» und schließlich die Bewahrung und Erneuerung von Vertrauen.
1. Gleiche Würde
Die Überzeugung von der gleichen Würde jedes Menschen verpflichtet zu einem wirtschaftlichen Handeln, das die Menschenrechte der beteiligten Personen anerkennt. Die Überwindung von Armut und die Förderung des gesellschaftlichen Wohlstands sind dabei vorrangige Ziele; das gilt gerade dann, wenn Firmen aus reichen Ländern im Armutsgürtel der Erde tätig sind. Der Einsatz für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder verträgt sich nicht mit menschenrechtswidrigen Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit oder der Anpassung an rassistische Strukturen.
Die Orientierung an der
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