Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
Lebensalter exponentiell an.
Der medizinische Fortschritt selbst erzeugt Knappheit – nämlich dadurch, dass er zusätzliche Kosten hervorruft. Zwar können sich die Kosten für die einzelne medizinische Leistung verringern, indem der therapeutische Aufwand oder die nach einer Operation nötige Dauer einer Krankenhausbehandlung zurückgehen. Insgesamt jedoch steigen die Kosten, wie sich exemplarisch am Einsatz intensivmedizinischer Behandlungen, komplexer Operationstechniken oder kostspieliger Arzneimittel zeigt.
Trotz des Selbstbestimmungsrechts der Patienten sind die Entscheidungen über diagnostische oder therapeutische Maßnahmen weitgehend anbieterbestimmt. Der Umgang mit den knappen Ressourcen des Gesundheitswesens regelt sich nicht nach einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Der Patient ist zwar Kunde, bezahlt aber die Kosten nicht direkt über Preise, sondern über Versicherungsbeiträge. Die knappen Ressourcen des Gesundheitswesens werden nicht individuell, sondern kollektiv zugewiesen: durch Verhandlungen über Gebührenordnungen, Pflegesätze, Arzneimittelpreise, Versicherungsbeiträge und schließlich den Anteil des Gesundheitsbereichs am Bruttoinlandsprodukt. Gegenwärtig beträgt dieser Anteil in Deutschland etwa 11 Prozent (Deutscher Ethikrat 2011: 14).[ * ] Doch die Debatte über den Anteil der Gesundheitskosten setzt eine Antwort auf die Frage voraus, was Gesundheit ist und wer für sie Verantwortung trägt.
Hauptsache gesund
Immer wieder wird die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Präambel ihrer Verfassung aus dem Jahr 1946 zitiert, der zufolge Gesundheit «ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen» ist. Der Theologe und Mediziner Dietrich Rössler hat dem entgegengehalten, dass Gesundheit «nicht die Abwesenheit von Störungen» ist, sondern «die Kraft, mit ihnen zu leben» (Rössler 1977: 73). In der Definition der WHO kommt ein unrealistischer Idealbegriff von Gesundheit zum Ausdruck, dem zufolge zwischen Heil und Heilung kaum zu unterscheiden ist. Der Medizin wird die Kraft zugetraut, eine vollständige, von allen Beeinträchtigungen freie Integrität des Menschen herzustellen. Die Definition von Dietrich Rössler klingt dem gegenüber resignativ; sie erweckt den Anschein, als ließen sich gesundheitliche Störungen, wenn sie einmal aufgetreten sind, ohnehin nicht beheben – die Hilfe beim Leben mit Störungen ist alles, was sich erreichen lässt (vgl. Härle 2011: 267ff.). Doch weder eine Überhöhung der Möglichkeiten des Heilens
(cure)
noch ein resignativer Rückzug auf die Aufgabe des Helfens
(care)
weisen den richtigen Weg. Ihn findet man erst, wenn man die Frage nach Gesundheit und Krankheit auf das leitende Bild vom Menschen bezieht. Dann zeigt sich nämlich, dass
cure
und
care
im ärztlichen Handeln zusammengehören (vgl. zu
care
auch oben S. 36).
Der Medizinethiker Giovanni Maio hebt am Menschenbild der heutigen Medizin vier Züge besonders hervor: Der Mensch als Körper-Maschine, der Mensch als souveräner Kunde, der Mensch als atomistisches Einzelwesen und der Mensch als das Machbare (Maio 2012: 376ff.). Alle vier hängen mit dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaft in der Medizin zusammen. Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin will die Grenzen des Machbaren hinausschieben und Menschen dabei helfen, immer größere Teile ihrer Lebensspanne bei guter Gesundheit auszuschöpfen. Die Aufgabe der Medizin wird nicht nur darin gesehen, Leben zu erhalten, sondern es zu vervollkommnen. Dieses Handlungskonzept lässt den Gesundheitsmarkt zu einem starken wirtschaftlichen Faktor anwachsen. Der Patient nimmt als souveräner Kunde Gesundheitsleistungenin Anspruch, die vom Solidarsystem finanziert werden. Er ist auf sich selbst bezogen und möchte das Machbare nutzen.
Eine solche Sichtweise beschreibt natürlich nur Teile des ärztlichen und pflegerischen Handelns und spiegelt nur einzelne Aspekte in der Erfahrung von Patienten. Ärztliches Handeln hat in Wahrheit einen weiteren Horizont, denn es hat mit dem vulnerablen, beziehungsbedürftigen, auf Stellvertretung angewiesenen Menschen zu tun. Nicht die perfekte Maschine, der souveräne Kunde, der isolierte Egoist oder der das Machbare nutzende
homo faber
tritt vor Augen. Der Mensch begegnet vielmehr in seiner Endlichkeit und Verletzlichkeit, in seiner Hilfsbedürftigkeit, in der er nur
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