Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
leben kann, wenn andere für ihn eintreten.
So zeigen sich in der Praxis der heutigen Medizin zwei Grundlinien des Menschenbildes in ihrem spannungsvollen Miteinander, die uns schon an früherer Stelle begegnet sind (siehe oben S. 56f.). Diese beiden Grundlinien manifestieren sich in dem griechischen und dem biblischen – beziehungsweise dem olympischen und dem jesuanischen – Bild vom Menschen. In diesen Menschenbildern hat die Verletzlichkeit einen unterschiedlichen Ort. Für das olympische Modell ist Vulnerabilität eine Beeinträchtigung, die nach Kräften überwunden werden muss; der Fortschritt der Medizin dient der Aufgabe, Beeinträchtigungen zum Verschwinden zu bringen. Für das jesuanische Modell ist Vulnerabilität eine Grundbestimmung des Menschseins, ein Bestandteil der
conditio humana
. Das Ziel kann nicht darin bestehen, alle Beeinträchtigungen einer vermeintlichen menschlichen Vollkommenheit zum Verschwinden zu bringen und diese Vollkommenheit darüber hinaus durch Verbesserungsmaßnahmen
(enhancement)
zu fördern. Es ist vielmehr darin zu sehen, dass der Mensch sich in seiner Verletzlichkeit annimmt und dass auf dieser Grundlage behebbare Beeinträchtigungen überwunden und beherrschbare Gefährdungen des Lebens gebannt werden. Der seiner Vulnerabilität bewusste Mensch weiß, dass dies immer nur begrenzt möglich ist.
Jeder Mensch ist ein verletzliches, unvollkommenes und unvollständiges Wesen. Der Fortschrittsoptimismus der Moderne erhält damit ein wichtiges Gegengewicht. Die siegesgewisse Zuversicht der modernen Wissenschaft nährt die Vorstellung, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Leid und Schmerz vollständig überwunden sind. Doch so bewundernswert die Erfolge der modernen Medizin sind: Die Endlichkeit desmenschlichen Lebens löschen sie nicht aus. Auch wenn körperliche Schmerzen gelindert werden können: Den Schmerz, den Menschen einander zufügen, kann keine Medizin aus der Welt schaffen. Auch heute sind wir auf ein nüchternes Bild vom Menschen angewiesen, das die Wirklichkeit von Sünde, Schuld und Tod einschließt. Das bedeutet freilich nicht, Krankheit und Tod aus der menschlichen Sündhaftigkeit zu erklären. Vielmehr hat die neuere theologische Diskussion deutlich gezeigt, dass beide wesenhaft mit der Endlichkeit des Lebens verbunden sind; der Umgang mit der Erfahrung von Krankheit und Tod setzt deshalb die bewusste Annahme der Endlichkeit des Lebens voraus (vgl. Thomas 2010).
Mit dankbarem Staunen kann man dennoch feststellen, welche Fortschritte die Medizin in einer einzigen Generation zu Stande gebracht hat. Diese Veränderungen haben sogar das Nachdenken über den Tod und den Todeszeitpunkt revolutioniert. Die Medizin sieht inzwischen im Ausfall der Hirnfunktionen und nicht in der Beendigung des Blutkreislaufs das entscheidende Todeszeichen. Noch immer ist die Debatte über diesen Paradigmenwechsel keineswegs abgeschlossen.
Die Weltgesundheitsorganisation hat ihre Gesundheitsdefinition in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 revidiert. Man orientiert sich nicht mehr an einem Idealbild der Gesundheit, sondern achtet auf die verschiedenen Dimensionen, in denen sich menschliches Leben vollzieht und Gestalt annimmt. Dies sind Aktivität und Selbstbestimmung, subjektiv erlebtes Wohlbefinden und Lebensqualität, Gesundheitsverhalten und Lebensstil, gesundheitsverträgliche und gesundheitsfördernde Umwelt. Die mit ihnen verbundenen Aufgaben stellen sich, wenn eine Krankheit sich beheben lässt, aber auch dann, wenn Menschen sich dauerhaft auf ein chronisches Leiden einstellen müssen. In beiden Fällen geht es darum, das erreichbare Maß an Lebensqualität und sozialer Teilhabe zu ermöglichen. Die Beachtung solcher Dimensionen nötigt zugleich zu einem umfassenden Blick auf die Lebenssituation von Patienten. Ihre Lebenswelt und ihre sozialen Bezüge treten genauso vor Augen wie ihr individuelles Befinden; die seelisch-geistige Situation verlangt ebenso Beachtung wie ihr körperlicher Zustand. Besondere Vorkehrungen sind nötig, um zu erreichen, dass Patienten durch ihr eigenes Gesundheitsverhalten Therapieziele unterstützen und sich Schritte vornehmen, durch die sie auch neue psychische Kraft schöpfen können.
Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen wird die Erinnerung an die «Verlorene Kunst des Heilens» verständlich, mit der Bernard Lown, bedeutender amerikanischer Kardiologe und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1985, an die Öffentlichkeit
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